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Gesellschaft Gesellschaft: Nicht auf allen Hochzeiten tanzen

04.07.2001, 08:31

Potsdam/gms. - «Viele Menschen haben Schwierigkeiten damit, etwas abzulehnen»,weiß Diplom-Psychologe Heiko Sill aus Potsdam. Sie wollen niemandenvor den Kopf stoßen oder keine Verantwortung an andere abtreten. Wemdas schwerfällt, der hat Psychologen zufolge oft ein starkesHarmoniebedürfnis oder einen Hang zum Perfektionismus. Diese Menschenmüssen lernen, Entscheidungen zu treffen und zu ihnen zu stehen, sagtHelge Halbensteiner aus München. Er hat bei seiner Arbeit alsPsychotherapeut festgestellt, dass immer mehr Menschen mit demNeinsagen Probleme haben.

«Die Werbung versucht heute überall, uns etwas zu verkaufen -sogar am Telefon. Der Respekt vor dem Persönlichen wird immerkleiner», so der Experte. Dadurch falle es auch in Beruf undPrivatleben immer schwerer, Anfragen abzuwehren. Bei vielen führt dasdazu, dass sie sich persönlich überfordern. «Wenn ich an zu vielenFronten auf einmal kämpfe, fühle ich mich bald hilflos undausgeliefert», so Gabriele Poletajew, die eine psychotherapeutischePraxis in Albstadt bei Tübingen hat. Bei einigen Menschen könnenErschöpfungszustände, Schlafstörungen und Depressionen die Folgesein.

Wer trotz großer Anstrengung das Gefühl hat, der Berg von Terminenund Verpflichtungen werde nicht kleiner, sollte sein Verhaltenhinterfragen. «Niemand kann auf allen Hochzeiten tanzen», sagtPoletajew. Sie rät daher, es nicht allen recht machen zu wollen -Nein sagen lasse sich lernen. Die Expertin empfiehlt «Zeit- undStressmanagement». Ein erster Schritt sei, nicht perfekt sein zuwollen. Vielmehr komme es darauf an, sein Zeitbudget realistischeinzuschätzen und Prioritäten zu setzen. «Ich muss mich fragen: Waswill ich eigentlich?», so Poletajew.

Hilfreich kann es sein, aufzuschreiben, wie viel Zeit eine Aufgabein Anspruch nimmt. So kann man sich vor Augen führen, welchesArbeitspensum sich pro Tag oder pro Woche bewältigen lässt. Wenn impersönlichen Terminkalender kein Platz mehr frei ist, ist einNein der bessere Weg. «Die Kunst ist, etwas so abzulehnen, dass esniemanden vor den Kopf stößt», weiß Heiko Sill. Das sei einBalanceakt, bei dem es darum geht, zu sich selbst zu stehen undverbindlich aufzutreten.

Vor allem im Beruf ist das richtige Neinsagen wichtig, rät NorbertZeller vom Zeller-Team in Baltmannsweiler bei Stuttgart. Er bietetKommunikationsschulungen für Unternehmen an. «Entweder ich sage neinoder ich werde mit Arbeit zugemüllt», sagt er. Er rät daher, klareSignale zu setzen. «Man muss sich klar machen, dass man weder sichnoch anderen damit hilft, keine Bitte abzuschlagen. Die Zeit reichteinfach nicht aus, alles gleich gut zu erledigen.»

Manchen hilft es schon, die Arbeitsplatzbeschreibung noch einmalgenau durchzulesen und sich Aufgaben und Ziele des Jobs noch einmalvor Augen zu führen. Andere müssen das Neinsagen mühsam üben. DieseMenschen sollen darauf achten, sich nicht überrumpeln zu lassen. «Wemdas schwer fällt, der sollte sich fünf Minuten Zeit nehmen undanbieten, zurückzurufen. In dieser Zeit kann man in Ruhe eine Absageformulieren», so Heiko Sill.

Wer sich im Ablehnen üben will, sollte allerdings nicht mit derobersten Weisung vom Chef beginnen. Einfache Dinge, etwa in derFreizeit, bieten sich eher an. Außerdem ist es wichtig, sichhilfsbereit und kooperativ zu zeigen. «Ich kann zum Beispielversprechen, beim nächsten Mal wieder zur Verfügung zu stehen oderauf einen Kollegen verweisen.» So zwingt man den anderen zumNachdenken.Von einem Tag auf den anderen ist das Neinsagen jedenfalls nichtzu lernen. Es bedeutet harte Arbeit.

Literatur: Antje Balters: Mut zum Nein sagen. Grenzen setzen ohneSchuldgefühle, Gerth Medien, ISBN 3-89437-707-0, 9,80 Mark. HerbertFensterheim und Jean Baer: Sag nicht ja, wenn Du nein sagen willst,Goldmann Taschenbuch, ISBN 3-442-11297-4, 14,90 Mark.