Aufmerksamkeitsdefizitstörung Aufmerksamkeitsdefizitstörung: Diagnose und Therapie sind schwierig

Hamburg/Berlin/dpa. - Als der Hauptschüler Jens elf Jahre altwar, wog er gut 70 Kilogramm. Auf den Schulhof ging er nicht, weil esdort immer Streit gab. Allein in der Klasse aß er dann heimlich diePausenbrote der anderen. Auf einen Zettel schrieb er «Ich tot, allefroh». Jens war weder von Grund auf gemein noch doof, er war miteinem IQ von 128 sogar ausgesprochen intelligent: Jens hatte ADHS,eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, und diesunglücklicherweise zu einer Zeit, als die Krankheit noch kaum bekanntwar.
Das hat sich inzwischen geändert. Doch noch immer ist esschwierig, die Störung festzustellen und zu behandeln, sagenADHS-Experten wie Prof. Manfred Döpfner von der Universität Köln. Undnoch immer gibt es Eltern, die sich selbst Freunden nicht anvertrauenmögen - auch die von Jens.
Ritalin, Zappelphilipp-Syndrom, Hyperkinetische Störung, ADS,ADHS: Es ist noch gar nicht lange her, dass eine breiteÖffentlichkeit diese Begriffe kennenlernte und leidenschaftlichdarüber diskutierte, ob es sich hier einfach um «schwierige» Kinderhandelte, die mit Tabletten ruhig gestellt werden sollten, oder obdoch eine «echte» Krankheit mit neurobiologischem Hintergrund vorlag.
Die Diskussion ist zwar sachlicher geworden, doch können Elternnicht davon ausgehen, dass die Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit undohne Hyperaktivität (ADS/ADHS) von jedem Arzt gleich gut erkannt undbehandelt wird. «Auf dem Land gibt es noch gehäuft die Auffassung:Der ist einfach ungezogen», sagt Michael Huss, ADHS-Experte an derCharité-Klinik in Berlin.
Drei bis sechs Prozent aller 4- bis 16-Jährigen seien betroffen,sagt Psychotherapeut Döpfner. Das seien 200 000 bis 500 000 Mädchenund Jungen. Die Krankheit gehört zu den häufigsten neuropsychischenStörungen, so die auf ADHS spezialisierte Kinderärztin KirstenStollhof aus Hamburg, die auch Jens behandelt.
Leitsymptom der Krankheit ist mangelnde Konzentrationsfähigkeit,betont Prof. Michael Schulte-Markwort, stellvertretender Direktor derKinder- und Jugendpsychiatrie am UniversitätsklinikumHamburg-Eppendorf. Mindestens ein Drittel der Betroffenen hat auchals Erwachsener noch Probleme. «Gegen den Satz "Das wächst sichzurecht", wird man allergisch».
Familien- und Zwillingsstudien belegen Schulte-Markwort zufolge,dass ADHS in hohem Maße genetisch bedingt ist. Auch zeigen Studien,dass bei ADHS-Kindern die Aktivität der Nervenzellen etwa imStirnhirn deutlich herabgesetzt ist. Hintergrund ist nach jetzigenErkenntnissen ein Ungleichgewicht bestimmter Botenstoffe im Hirn wieDopamin und Noradrenalin. Diese Botenstoffe transportierenInformationen von einer Nervenzelle zur nächsten. Zudem ist dasGehirn von ADHS-Kindern offensichtlich zum Teil anders aufgebaut, wieKernspintomographie-Untersuchungen zeigen.
Doch das genetische Risiko entscheidet nicht allein, ob und wiestark ein Kind später unter ADHS leidet. Wichtig sind unter anderemauch Erziehungsstil und Alltagsorganisation in der Familie. «Für einKind, das sich schlecht konzentrieren kann und motorisch sehr unruhigist, ist es Gift, wenn es keine klaren Regeln gibt», sagtSchulte-Markwort.
Unter motorischer Unruhe leiden aber längst nicht alle betroffenenKinder. Deshalb unterscheiden die Fachleute zwischen den eherverträumt wirkenden Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS)und den rastlosen, hyperaktiven ADHS-Kindern. «Aber es verbietetsich, ein Kind wegen motorischer Unruhe zum Arzt zu geben, und derschaut dann drauf und sagt: Ja, es ist ADHS», warnt Schulte-Markwort.
Eine «Blickdiagnose» sei keinesfalls ausreichend, betont auchPsychologe Döpfner. Notwendig seien mindestens zwei Sitzungen à 40Minuten. Dabei werden etwa Konzentrationsvermögen und Intelligenz desKindes untersucht. Aber auch sein Verhalten in der Gruppe solltebeobachtet werden, sagt Kinderärztin Stollhoff. Ebenfalls wichtigsind die Aussagen von Eltern und Lehrern, mit denen der Arzt denWerdegang des Kindes zu erfassen sucht. «ADHS ist nicht etwas, dasman hat oder nicht hat, wie Masern oder Mumps», sagt Döpfner. «DieGrenzen zur Normalität sind fließend.»
Zusätzlich wird die Diagnose dadurch erschwert, dass die meistenADHS-Kinder oft noch mit anderen Problemen zu kämpfen haben: «In 70Prozent der Fälle ist es nicht ADHS allein», sagt MedizinerinStollhoff. Jedes zweite Kind zeigt laut Schulte-Markwort ein«oppositionelles Sozialverhalten» - es ist trotzig, aggressiv,manchmal sogar grausam. 10 bis 40 Prozent der Kinder seien depressiv.Jeweils rund 20 Prozent hätten Angst- oder Lernstörungen.
So komplex wie die Krankheit ist auch die Therapie. PsychologeDöpfner unterscheidet zwischen «Eltern-, Schul- undPatientenzentrierter Intervention». Die Gabe von Medikamenten wieRitalin ist nur einer von vielen Therapiebausteinen.
Zwar bilden sich laut Döpfner viele Kinderärzte in Sachen ADHSweiter. Doch insgesamt sei die Situation verbesserungsfähig. Er rätEltern zu kritischen Nachfragen. Häufig seien kompetente Ärzte in denStädten zu finden, sagt Charité-Psychologe Huss. «Die Leute reisenmitunter 100 Kilometer. Dabei sollte es eigentlich so sein, dass esüberall eine gute regionale Versorgung gibt.»
Für Jens war es gut, dass seine Eltern in die Großstadt umzogenund er endlich als ADHS-Kind therapiert wurde: Er ist zwar immer nocham liebsten allein zu Hause und sein Arbeitstempo ist langsam. Aberer hat Gewicht verloren, sein Abitur gemacht, sich mit dem Vaterausgesöhnt und sogar zwei gute Freunde gewonnen.