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Jugendamt war bereits aufmerksam geworden Was der Tod der zweijährigen Sophie aus Halle auch zeigt

Dramatische Personalnot: Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen steigt seit Jahren, in den Jugendämtern herrscht Personalmangel – das kann drastische Folgen haben.

Von Jessica Quick und Jonas de la Chaux Aktualisiert: 21.05.2024, 09:58
Wie traurig: Viele Kinder werden vernachlässigt oder sogar misshandelt. Oft ohne Kenntnis der Behörden, die mit Personalnot kämpfen.
Wie traurig: Viele Kinder werden vernachlässigt oder sogar misshandelt. Oft ohne Kenntnis der Behörden, die mit Personalnot kämpfen. (Symbolfoto: imago images/Future Image)

Die Nachricht war ein Schock. Für Hallenser, für Eltern in Sachsen-Anhalt und für Menschen im Allgemeinen. Die zweijährige Sophie stirbt am Sonntag vor einer Woche an schweren Verbrühungen in ihrem Kinderbett. Ermittelt wird nun wegen gemeinschaftlichen Totschlags durch unterlassene Hilfeleistung. Weder der Vater noch die Mutter oder die Oma haben das schwer verletzte Mädchen in ein Krankenhaus gebracht.

Dabei war das Jugendamt längst auf die Familie aus Halle aufmerksam geworden. Sophie hatte im vergangenen Jahr einen Rippen- und Oberschenkelbruch erlitten. Der Vater behauptete, dass er das Kind damals „aus Versehen in die Wanne fallengelassen“ habe. Die Behörden sollen die Kinder daraufhin für sechs Wochen in Obhut genommen haben. Auch die Staatsanwaltschaft hatte wegen des Vorfalls ermittelt, das Verfahren jedoch im November eingestellt.

Fakt ist: Die Zahlen von registrierten Kinderschutzfällen sind so hoch wie nie zuvor. Rund 62.300 Fälle von Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt haben die deutschen Jugendämter laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2022 festgestellt. Das waren rund 2.300 Fälle oder vier Prozent mehr als im Vorjahr und fast doppelt so viele wie noch 2012.

Auch die Jugendämter in Sachsen-Anhalt haben im Jahr 2022 deutlich mehr Fälle akuter Kindeswohlgefährdung verzeichnet. Mit einem Plus von 247 Fällen stieg die Zahl laut Statistischem Landesamt in Halle im Vergleich zum Vorjahr um 36 Prozent. In den meisten akuten Fällen seien Babys betroffen gewesen. Am häufigsten initiierten demnach die Polizei oder Justizbehörden, Jugendhilfen sowie medizinisches Personal Verfahren, deren Ergebnis eine akute Gefährdung des Kindeswohls war.

Polizei und Kriminatechnik in der Paracelsusstraße im Einsatz.
Polizei und Kriminatechnik in der Paracelsusstraße im Einsatz.
(Foto: Marvin Matzulla)

„Das System der Kinder- und Jugendhilfe kollabiert“, sagt Kerstin Kubisch-Piesk, Vorstandsvorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Allgemeinen Sozialen Dienste (BAG ASD). Die Situation in der Jugendhilfe sei desolat. Bereits im April 2023 hatte sie sich mit einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) gewandt. Es war ein Hilferuf.

Ihre Forderung: Die Bundesregierung müsse sofort handeln, ein Kinderschutzgipfel sei nötig, um der prekären Personalsituation in den Jugendämtern etwas entgegenzusetzen. „Es sind zu viele Fälle und sowohl die Jugendämter als auch die freien Träger haben zu wenig Personal und damit Zeit, um alle Fälle adäquat zu bearbeiten. Die Gemengelage ist unverantwortbar“, sagt Kubisch-Piesk. Außerdem sei die Behörde nicht nur für den Kinderschutz zuständig. „Unsere Arbeit geht darüber hinaus: Wir sind die zentrale Anlaufstelle für Familien, die Hilfe suchen. Wir unterstützen in der Krise, sind Ansprechpartner und betreuen Kinder und Eltern frühzeitig, sodass es gar nicht erst zu Kindeswohlgefährdungen kommt. Diese Präventionsarbeit ist essenziell und eigentlich der Hauptteil unserer Arbeit“, so Kubisch-Piesk. Ohne das nötige Personal sei diese Arbeit allerdings schlichtweg nicht mehr möglich.

Es sind zu viele Fälle und sowohl die Jugendämter als auch die freien Träger haben zu wenig Personal und damit Zeit, um alle Fälle adäquat zu bearbeiten. Die Gemengelage ist unverantwortbar.

Kerstin Kubisch-Piesk, Vorstandsvorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Allgemeinen Sozialen Dienste (BAG ASD)

Im Jahr 2022 nahmen die Jugendämter insgesamt 66.400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut. Dies war ein Anstieg um 18.900 Fälle oder um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Hauptgrund war ein wachsendes Aufkommen an unbegleitet eingereisten Minderjährigen aus dem Ausland: Im Jahr 2022 stiegen die Inobhutnahmen allein deshalb um 17.300 Fälle.

In Halle gab es im vergangenen Jahr 491 Inobhutnahmen – um Gefahr für das Wohl der Kinder abzuwenden. In Kinderheimen und Wohngruppen, die auch von freien Trägern betrieben werden, stehen rund 500 Plätze zur Verfügung.

Wohin mit Problemkindern?

Besonders schwierig ist es zudem, Plätze für „Systemsprenger“ zu finden, also Kinder und Jugendliche mit besonders herausforderndem Verhalten. In Südostniedersachsen gibt es einen sogenannten „Systemsprengerverbund“. Dazu gehören sechs Jugendhilfeträger, die passgenaue Angebote für Systemsprenger finden.

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Braunschweig ist ein großer Träger in diesem Verbund, der mit 170 stationären Plätzen Kindern und Jugendlichen ein Zuhause gibt, wenn diese bei ihren Eltern aufgrund vom Kindeswohlgefährdungen nicht mehr bleiben können. Jeden Tag erreichen das Team mindestens fünf Anfragen, nicht nur aus Niedersachsen, sondern aus ganz Deutschland. Doch vor allem bei unterbesetzten Teams sei es besonders schwierig, Systemsprenger unterzubringen. Hinzu komme, dass es einfach keine freien Plätze gebe. Dieser Zustand halte sich nun schon seit Sommer vergangenen Jahres.

Für die Arbeit der Jugendämter ist diese Situation eine Katastrophe. Mitarbeitende der ASD müssen teilweise bis zu 50 Einrichtungen abtelefonieren, wenn sie ein neues Kind unterbringen wollen. Freie Träger wie die AWO haben die Freiheit, Nein zu sagen, wenn sie keine Kinder oder Jugendlichen mehr aufnehmen können. Die öffentlichen Träger können das nicht. Das führe teilweise dazu, dass ein Kind im Hotel untergebracht werden müsse oder auf der Couch im Jugendamt schlafe, so Nils Borkowski von der AWO Braunschweig.

Der Film "Systemsprenger" hat wachgerüttelt.
Der Film "Systemsprenger" hat wachgerüttelt.
(Foto: picture alliance/dpa/Deutscher Filmpreis)

Von ähnlichen Erfahrungen berichtet Kubisch-Piesk: „Der ASD muss immer eine Lösung für die Kinder finden. Man kann sie ja nicht mit nach Hause nehmen.“ Sie selbst habe schon erlebt, dass manche Kollegen das trotzdem tun. „Das ist kein Zustand. Zu einem Arzt sagt man ja auch nicht, wenn alle Betten belegt sind, nimm deinen Patienten mit nach Hause. Ich finde, das macht sehr deutlich, was von den Kollegen teilweise abverlangt wird“, so Kubisch-Piesk.

Wenn das System der Kinderhilfe versagt, habe das dramatische Folgen. „In den Spitzen erfährt man dann durch die Medien, dass ein Kind zu Hause totgeprügelt wurde. Gerade bei kleinen Kindern geht es hier um Leben und Tod“, sagt Borkowski.

Hier gibt es Hilfe

Der Kinderschutzbund Sachsen-Anhalt bietet Kindern und Eltern Hilfe und Beratung an. Das kostenfreie Kinder- und Jugendtelefon ist über die 116111 von Montag bis Freitag, 14 bis 20 Uhr, erreichbar. Das Elterntelefon ist montags bis freitags 9 bis 11 Uhr sowie zusätzlich dienstags und donnerstags 17 bis 19 Uhr über die 08001110550 erreichbar.

Das Zentrum „Frühe Hilfen“ bietet Unterstützung für werdende Eltern und Familien mit kleinen Kindern. Auf der Website gibt es zudem einen Leitfaden zur Früherkennung von Kindesvernachlässigung und –misshandlung.

Die Kassenärztliche Vereinigung des Landes bietet zudem eine Übersicht über Gesetze, Anlaufstellen und Hilfsangebote.

Dass dieser Satz nicht nur eine leere Phrase ist, zeigen viele verschiedene Fälle in ganz Deutschland. Juli 2020: Ein Vater misshandelt seinen sechs Monate alten Sohn über Monate. Das Kind trägt innere Blutungen und ein Schädel-Hirn-Trauma davon, überlebt zum Glück dennoch.

Dezember 2013: Die dreijährige Yagmur stirbt nach einem Leberriss. Rechtsmediziner zählten bei der Obduktion ihres Körpers allein äußerlich 83 Wunden. Die Eltern sollen das Kind misshandelt haben. Mai 2012: Im schwäbischen Aldingen überlässt eine Mutter ihre drei Kinder wochenlang weitgehend sich selbst, bis die Kleinste kurz vor ihrem zweiten Geburtstag verhungert.

20.000 offene Stellen

Um derart dramatische Folgen zu verhindern, müssen in Zukunft auch dringend bessere Lösungen für den Fachkräftemangel gefunden werden. „Die Ausbildung von Fachkräften aus dem Ausland wird hier in Deutschland immer noch viel zu wenig anerkannt“, so Borkowski. Wenn ein ausgebildeter Sozialpädagoge aus dem Ausland nach Deutschland komme und dann zuerst eine dreijährige Ausbildung absolvieren müsse, sei dies in der jetzigen Situation wie eine Ohrfeige.

Wie schwerwiegend der Fachkräftemangel ist, zeigen auch die Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). „2023 gab es im Bereich der Sozialarbeit und Sozialpädagogik eine Fachkräftelücke von knapp 20.000 offenen Stellen, für die es bundesweit rechnerisch keine passend qualifizierten Arbeitslosen gab“, sagt IW-Fachkräfteexpertin Lydia Malin. „Neben den Erziehern ist das der Beruf mit der größten Fachkräftelücke deutschlandweit.“ Die Stellenüberhangsquote, also der Anteil an offenen Stellen, die nicht besetzt werden konnten, lag hier 2023 bei 76 Prozent.