Schlimmer Trend Kinder haben kaum noch Ahnung von Natur – warum das Grün aber so wichtig ist
Von Schmetterlings-Kokons im Klassenzimmer bis zu spannenden Abenteuern am Bach: Kinder lernen draußen spielerisch, die Natur zu entdecken – und das wirkt sich positiv auf Gesundheit, Kreativität und Gemeinschaft aus.

Magdeburg/Hundisburg/MZ. Erst kürzlich hat Jens Vollmann mit den Schülern und Schülerinnen einer ersten Klasse einen Tag im Leben eines Schmetterlings nachgespielt: Sie sind in ausrangierte Kissenhüllen geschlüpft, die einen Kokon darstellen sollten, haben sich Flügel gebastelt und Nektar aus Blumen gesaugt.
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„Mit älteren Schülern gehe ich dagegen oft in den Wald“, sagt Vollmann. Nach seiner Laufbahn als Geschichts- und Sozialkundelehrer hat er die Ökoschule in Hundisburg im Landkreis Börde mit aufgebaut und koordiniert nun die Angebote dieses außerschulischen Lernorts.
Vom Klassenzimmer in den Kokon
„Im Wald entdecken die Kinder auf spielerische Weise verschiedene Baum-, Pflanzen- und Tierarten.“ Auch an den Bach geht er gerne mit den Kindern: „Vor allem mit Grundschulkindern untersuchen wir den Bach aus verschiedenen Perspektiven“, sagt Vollmann.
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Wir bestimmen die Himmelsrichtungen und zeichnen ihn in eine Karte ein, wir beobachten die Tiere, die darin schwimmen, messen die Breite, Tiefe und Fließgeschwindigkeit. Aber das Spannendste für die Kinder ist meistens, dass wir ein paar Tiere rauskeschern und uns unter dem Mikroskop anschauen. Da sind Schüler und Schülerinnen völlig begeistert.“
Abenteuer Bach und Wald
Gerade diese Begeisterung für die Natur ist in heutigen Zeiten immens wichtig. Denn es gibt Hinweise darauf, dass sich Kinder zunehmend von der Natur entfremden.
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„Internationale Studien zeigen, dass der direkte Kontakt zur Natur abgenommen hat“, sagt auch die Biologin Katrin Böhning-Gaese vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) mit Standorten in Halle, Magdeburg und Leipzig. Sie forscht zur Beziehung zwischen Menschen und Ökosystemen. Inwieweit sich die internationalen Ergebnisse auch auf Deutschland übertragen lassen, lässt sich schwer sagen.
Etwa die Bundeszentrale für politische Bildung stellt fest, dass es systematische Untersuchungen zum Thema Naturentfremdung für Deutschland bislang fehlen. „Aber wenn es zum Beispiel um die Kenntnis der Tier - und Pflanzenarten geht, stellen wir fest, dass diese in den letzten Jahrzehnten dramatisch abgenommen hat“, sagt Böhning-Gaese.
Warum Naturkontakt so wichtig ist
Das ist insofern beunruhigend, als dass die Natur einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden hat. „Die Natur ist ein ganz wichtiger Faktor für unsere psychische und physische Gesundheit“, sagt Böhning-Gaese.
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Denn wer draußen unterwegs ist, bewegt sich meist viel, kommt auf andere Gedanken und kriegt gute Laune. „Ich glaube, ganz wichtig ist diese Erholung in der Natur, die durch die feinen Naturreize entsteht. Das bedeutet, dass man sich anders konzentrieren muss“, sagt die Biologin. „Im freien Spiel draußen sind alle Sinne gefordert.
Kinder erleben, wie sich Sonne und Regen auf der Haut anfühlt, wie sich dieselbe Umgebung während der Jahreszeiten verwandelt. Sie riechen den Duft von Lindenblüten oder erleben den Geschmack von Wilderdbeeren, die sie selbst entdeckt haben.“
Im freien Spiel ist zudem die Kreativität der Kinder gefragt. Und nicht zuletzt kommt das Draußensein dem Immunsystem zugute.
Das zeigen etwa Studien mit Stadt- und Landkindern: „Gerade Kinder, die auf dem Bauernhof aufwachsen, haben durch den Kontakt mit vielen Mikroorganismen im Boden, Stall oder Fell von Tieren viel weniger Allergien als Stadtkinder“, sagt Böhning-Gaese.
Naturentfremdung: Ein wachsendes Problem
Wie oft Kinder in den Kontakt mit der Natur kommen, ist sehr individuell: Das hängt etwa damit zusammen, wie alt der Nachwuchs ist, was die Eltern vorleben und welche Alternativen sich für die Freizeit bieten. „Von klein auf sind Kinder total interessiert, vor allen Dingen an Tieren“, sagt Böhning-Gaese.
„Das bricht in der Pubertät bei vielen dann richtig ein. Der Tiefpunkt liegt zwischen 16 und 20 Jahren, dann interessieren sich die meisten wieder mehr für die Natur und bleiben irgendwo auf einem mittleren Niveau.“
Einen großen Einfluss hat neben dem Alter der Medienkonsum: „Mit den heutigen Möglichkeiten, sich mit Computerspielen, mit TikTok oder anderen Dingen am Handy zu beschäftigen, ist es natürlich ganz schön schwierig, eine Offenheit für echte Natur zu erreichen“, sagt die Biologin. „Dass Kinder, aber auch Erwachsene zu viel Zeit am Bildschirm verbringen, ist nachweislich ein großes Problem.“
Dazu kommt, dass viele Menschen in der Stadt wohnen und die wilde Natur oft weit entfernt und schwer zu erreichen ist. „Wobei ich an dem Punkt entspannter wäre und auch einen Stadtpark als Natur ansehen würde“, sagt Böhning-Gaese.
So werden Kinder wieder Natur-Profis
Um Kinder dauerhaft für das schützenswerte Grün zu begeistern, ist es gut, wenn der Naturbesuch zum sozialen Ereignis wird. Damit sind für Kinder, die mit wenig Naturerfahrungen aufwachsen, Angebote von Kindergarten und Schulen umso wichtiger.

Auch Jens Vollmann von der Ökoschule Hundisburg sagt: „In der Gruppe die Natur zu erleben, sie anzufassen, zu riechen, zu schmecken und so weiter, das macht den Schülern großen Spaß. Meist lasse er sie auch bewusst im Grünen spielen, damit sie die alle Biotope selbst erkunden könnten. „Damit entwickeln sie auch die Kompetenzen, um gut in Gruppen zusammenzuarbeiten.“
Tipps für Eltern: Kleine Abenteuer, große Wirkung
Tipps für Mütter und Väter hält die Biologin Böhning-Gaese vom UFZ bereit: Sie habe mit ihren Kindern draußen übernachtet, ohne Zelt, nur mit Isomatte, Schlafsack, Thermosflasche und ein paar belegten Broten. „Das hatte einen unglaublichen Einfluss auf die Kinder“, sagt Böhning-Gaese.
„Es hat sie tief berührt, die Nachtgeräusche zu hören, etwa den Wind in den Bäumen oder eine rufende Eule. Oder morgens das erste Licht. Das waren unglaublich wertvolle Familienerlebnisse.“
Aber auch in kleinerem Maße ließe sich aus einem Naturausflug ein soziales Event machen, etwa wenn Kinder den Wald entdecken, Kanu fahren oder an einem Fluss planschen.
Gerade in den ostdeutschen Bundesländern scheine das gut zu funktionieren, sagt sie. „Ich bin vor einem Dreivierteljahr von Frankfurt nach Leipzig gezogen und damit zum ersten Mal mehr in den ostdeutschen Bundesländern unterwegs.
Hier scheinen gemeinsame Naturerlebnisse eine viel stärkere Tradition zu haben.“ Oft sehe sie Großeltern, Eltern und Kinder gemeinsam beim Wandern – „und das ist das, was dann die Menschen zusammenbringt und sie mit der Natur verbindet.“