Liebhaber-Autos Liebhaber-Autos: Vom spießigen 68er zum Kultobjekt

Stuttgart/dpa. - Nüchtern betrachtet ist er ein ziemlicher Langweiler. Der heute einfach nur als «Strich-Achter» bekannte Mittelklasse-Mercedes aus den Jahren 1968 bis 1976 zeichnet sich weder durch besondere Schönheit noch durch stilistische Extravaganzen aus. Er ist im Grunde ein Ausbund automobiler Sachlichkeit - und doch hat er eine stattliche Gemeinde von Anhängern gewonnen, gilt sogar als echtes Kult-Objekt. Vermutlich ist es aber gerade das nicht verspielte Erscheinungsbild, das ihn so begehrenswert macht. Denn einerseits ist er zwar ein Klassiker, andererseits sieht er immer noch nicht wie ein echter Oldtimer aus - und bei richtiger Pflege bewältigt er auch heute noch anstandslos den täglichen Einsatz.
Schon die landläufige Bezeichnung als «Strich-Achter» zeigt, dass dieses Auto niemand je zu blumigen Wortschöpfungen veranlasste. Bei anderen Mercedes-Fahrzeugen jener Zeit war das noch anders. So galt sein Vorgänger im Volksmund wegen seiner Heckform als die Heckflosse, den SL-Roadster der sechziger Jahre nannte man wegen des in der Mitte abgesenkten Hardtops die Pagode. Bei der offiziell je nach Motorisierung W114 und W115 genannten «kleinen» Mercedes-Limousine setzte sich einfach ein Zusatz durch, den die Erbauer verwendeten: «Vorgestellt im Jahr 1968», das hieß bei Mercedes «/8», also «Strich-Acht» - auch wenn erste Exemplare bereits 1967 gebaut wurden.
Den ersten Käufern waren derlei Nebensächlichkeiten vermutlich egal. Ihnen ging es um praktische Vorzüge - und da konnte der «Strich-Achter» nicht alle Anhänger der Marke vollkommen überzeugen. Nicht nur, dass er im Gegensatz zum eher barock geformten Vorgänger einfach nur eckig, kantig und schlicht dastand. Er war auch kürzer, oder wie man offiziell sagte «kompakter». Das mag zwar die Benutzung des einen oder anderen Parkplatzes erleichtert haben, steigerte aber nicht gerade den Wert als Statussymbol zwischen all den Opel Rekord oder Ford Granada.
Eine Einstufung in C-, E- oder S-Klasse gab es damals bei Mercedes noch nicht. Er war einfach der kleine Mercedes, wie gewohnt mit einer Vielzahl von Motorisierungen. Äußerlich unterschieden diese sich allein durch den entsprechend verchromten Schriftzug am Kofferraumdeckel - nur die Spitzenmodelle wie der 250 oder später der 280 protzten mit etwas mehr Chrom oder doppelten Chromstoßstangen.
Preislich galt der 200 mit seinem Vierzylinder-Benziner, zwei Litern Hubraum und 70 kW/95 PS als Einstiegsmodell - er kostete anfangs 11 500 Mark. Das eigentliche Basismodell aber war der 500 Mark teurere 200 D, der im Grunde bis heute das Image des «Strich-Achters» prägt. Dieser Ahn aller modernen Diesel-Limousinen mühte sich mit seinen 40 kW/55 PS redlich, die 1,4 Tonnen Metall vorwärts zu bewegen. Bevor es allerdings losging, galt es, die berüchtigte «Diesel-Gedenkminute» in voller Länge auszukosten. Die kleine Leuchtanzeige, die heute während des Vorglühens eines Diesels für kurze Zeit aufflammt, war damals noch Zukunfts-Schnickschnack.
Handarbeit und Geduld waren angesagt: Links im Armaturenbrett wurde ein Vorglühknopf gezogen, der so lange festzuhalten war, bis ein Stückchen weiter rechts eine Spindel orange aufglühte - was genügend Zeit zum Meditieren über das Autofahren und den Dieselmotor an sich ließ. Glühte endlich etwas, galt es den Vorglühknopf zum Starten noch ein Stückchen weiter herauszuziehen. Der Effekt ähnelte entfernt dem Versuch, einen schlafenden Hund durch das Ziehen am Schwanz zu wecken. Der vordere Teil des Wagens schüttelte sich unter maßgeblicher Beteiligung des erwachenden Motors, um dann mit einem Geräusch die Arbeit aufzunehmen, das mit dem dieseltypischen Begriff «Nageln» nur unzureichend beschrieben ist.
Allerdings folgte dem rabiaten Start kein ebenso kraftvoller Arbeitsalltag. Das Thema Beschleunigung kann hier eher als kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeitszuwachs bezeichnet werden. Die Höchstgeschwindigkeit von 130 Kilometer pro Stunde soll in einigen Fällen tatsächlich auch in der Praxis erreicht worden sein - nach langem Anlauf ohne Gegenwind.
Dieses Image gepflegter Langsamkeit dürfte manche «Strich-Achter»-Besitzer mangels Überholprestige zur Weißglut gebracht haben - denn das Auto konnte auch anders. Schließlich gab es die Limousine auch mit kräftigen Sechszylindern. Der 230 leistete immerhin 88 kW/120 PS, der 250 kam auf 96 kW/130 PS, und später gab es sogar noch den 280 E mit 136 kW/185 PS. Für Menschen, die weniger auf vier Türen Wert legten, fand sich neben der Limousine auch eine noble Coupé-Variante mit den stärkeren Motoren im Programm. Diese lenkte innen mit Holzimitaten am Armaturenbrett und weiteren Zierstücken von der üblichen Innenraum-Tristesse ab.
Die Autokäufer überwanden ihre anfangs vorhandene Skepsis gegenüber der «Strich-Acht»-Limousine schnell und machten sie zu einem Erfolgsmodell. Ein Grund dafür dürfte auch das Gefühl der Sicherheit gewesen sein, das dieses Auto den Insassen bietet. Mehr noch als andere Mercedes-Typen vermittelt es das Gefühl, in einer Art fahrenden Burg zu sitzen, in der einem wenig passieren kann.
Und tatsächlich hatte man bei Mercedes gerade für das Thema Sicherheit einiges getan: Einerseits war da ein modernes Fahrwerk, dazu gab es die seinerzeit noch nicht üblichen Scheibenbremsen an allen Rädern. Die Passagiere konnten im Falle eines Falles auf Knautschzonen und die feste Sicherheitszelle vertrauen. Außerdem wollte man mit gepolsterten Armaturen Verletzungen möglichst verhindern. Ab April 1973 waren dann auch Sicherheitsgurte und Kopfstützen vorn sowie eine Frontscheibe aus Verbundglas serienmäßig.
Die größte Veränderung erlebte der «Strich-Achter» Mitte 1973 - auch wenn viele die Unterschiede auf Anhieb nicht einmal bemerkten. Zu diesem Zeitpunkt nämlich erhielt die Modellreihe ihr Facelift, was unter anderem einen breiteren und flacheren Kühlergrill sowie geriffelte Schlussleuchten mit sich brachte - letztere sollten vor allem unempfindlicher gegen Verschmutzung sein, waren aber gerade bei den Dieselmodellen eifrig dabei, Ruß aus dem Auspuff auf ihrer Oberfläche zu sammeln. Zum Leidwesen vieler Autofahrer fielen mit der Modellpflege die ausklappbaren Dreiecksfenster in den vorderen Türen weg. In Sachen Motoren gab es zudem einen neuen Fünfzylinder-Diesel mit drei Litern Hubraum und 59 kW/80 PS im 240 D 3.0.
Während ein Facelift in der Regel dazu dient, Verkaufszahlen einer altgedienten Baureihe vor dem nächsten Modellwechsel nicht allzu weit abfallen zu lassen, erreichte der «Strich-Achter» im Hinblick auf die Verkäufe erst im Alter seinen Höhepunkt. Das Maximum lag laut Mercedes in Stuttgart bei 278 663 Exemplaren im Jahr 1975. Schon im Januar 1976 war eigentlich Schluss, als die neue Baureihe W 123 zu den Händlern rollte. Allerdings führte das zu einer ungewöhnlichen Begebenheit in der Autoindustrie: Obwohl der Neue bereits zu haben war, wurde der beliebte Vorgänger noch bis Dezember 1976 gebaut. Dadurch kam die Baureihe auf eine Gesamtstückzahl von 1,92 Millionen Exemplaren - das entspricht fast der Gesamtstückzahl aller anderen von 1946 bis zu diesem Zeitpunkt gebauten Mercedes-Personenwagen.