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Wulf Kirsten Wulf Kirsten: Ich, auf der Erde bei Meißen

Von Christian Eger 06.11.2002, 13:53

Weimar/MZ. - Im Herbst 1964 geschah es, dass sich der Dichter Wulf Kirsten endlich selbst als ein Dichter begriff. 30Jahre alt war er, studierter Germanist und glückloser Deutschlehrer, niedergestreckt auf dem Krankenbett zu Freiberg. Über zehn Jahre hatte Kirsten bereits Verse gesetzt: nach fremden Zungen oft und in fremder Zunge - vitale, sarkastisch-kantige Verse, gern im Rühmkorf-Sound.

Nun ereignete sich das: die Lektüre von Johannes Bobrowskis Roman "Levins Mühle", im Untertitel "34 Sätze über meinen Großvater". Ein Menschen- und Landschaftslesebuch, das Sätze aufhob wie: "Ob etwas unanständig ist oder anständig, das kommt darauf an, wo man sich befindet - aber wo befinde ich mich? - und mit dem Erzählen muß man einfach anfangen." So fing Kirsten noch einmal an: ganz von vorne. Er kündigte den Schuldienst, wechselte zum Bau, bald darauf als Lektor in die Weimarer Filiale des Aufbau Verlages. Und er hob neu zu schreiben an: Denn er wusste, wo er sich fortan zu befinden hatte. Und mit dem Dichten muss man einfach anfangen.

Wulf Kirsten befand sich in seinem ureigenen Material: den Stimmen und Dingen seiner Herkunft, seiner Leute, seiner Landschaft - das sind die linkselbischen, überhaupt nicht weinseligen Täler zwischen Dresden und Meißen. Schwerer Lehmboden, pfiffige Himmel, Kleine-Leute-Winkel: Hier wurde Kirsten 1934 geboren als Steinmetzsohn im Dorf Klipphausen. Und allein über diesen Erlebnisraum will er schreiben: "die grasigen senken von rindern gefleckt. / am hellichten tag zur saatzeit im hügelland / ich - auf der erde bei Meißen".

Rund ein Dutzend Gedichtsammlungen sind bis heute erscheinen, Essays und Anthologien, zuletzt die Erinnerungen an eine Dorfkindheit: "Die Prinzessinnen im Krautgarten". Was war es, das ihn literarisch so sehr zu seiner Herkunftslandschaft zog? "Dass sie noch nicht weggedichtet war", sagt Kirsten. "Dass da noch niemand war, der sie beackert hat. Ich wollte kein Nachtreter sein." Und er wurde es nicht. So wie sich heute der Name Peter Huchels mit den Chausseen und Äckern der Mark verbindet, steht Kirstens Name für das Meißnische. Heute wird der 68-Jährige in der Bayerischen Akademie der Künste für "herausragende Verdienste um die deutsche Sprache und Literatur" geehrt - mit dem mit 30000Euro dotierten Schillerring der Schillerstiftung.

Wulf Kirsten lebt seit 1966 in Weimar - nicht schlecht, aber auch nicht wirklich recht: Die Kulturpolitik zerre an seinen Nerven, sagt er. Das Kleinmütige, Kleingeistige, das unter dem Druck von Krise und Klassik nur noch kleiner und drückender wird. Überall werde nur noch geschlossen, weggeschoben, umverteilt, klagt Kirsten. Weimar sei dabei, den Ast, auf dem es sitze, abzusägen: Das sei die Kultur.

Auf den ersten Blick entspricht Kirsten mehr dem Bild eines Landvermessers als dem eines Landschaftsdichters. Seine Persönlichkeit folgt ganz dem Geist und der Diktion seiner Gedichte: Auch hier walten Genauigkeit und Schärfe, Fleiß und Originalität, ein ländlich-meißnischer Ernst. Wie sein Vater einst den Stein, bearbeitet Wulf Kirsten die Sprache. Ein gutes Gedicht, sagt er, entstehe, wenn dessen Material so lange geschmeidig gemacht wurde, bis die Sprache selbst ihre Mitarbeit anbietet. Seine Gedichte entstünden oft im Gehen, gruppierten sich um ein Wort, das ein Gedanke sein muss - und gebaut werden sie auf eine Pointe hin. Glaubt er, der von Landschaft so angezogen wird, dass Landschaft durchschlägt auf den Charakter? Nein, das sei zu gewagt! "Ins Scherzhafte gewendet, könnte man dann ja behaupten: Die Hebungen und Senkungen der Verse fänden sich in denen der Landschaft wieder." Aber was heiße denn heute "Landschaft"? Meint es noch, wie bei ihm, den Echoraum von Alltag, Natur und Geschichte? "Aber man muss dieses Thema besetzen - bevor es andere tun."

Für sein ureigenes Tun erhält Kirsten am Donnerstag den Schillerring. Schiller? Ach. Kirsten winkt ab. Für ihn beginne die deutsche Literatur erst mit Heine, denn: "Ich stehe fest auf dem Boden des 19. Jahrhunderts". Das ist der Boden der Droste, Raabes und Kellers, einer Literatur, die auf das sinnliche Vergegenwärtigen der Dinge vertraut - einem irdischen Himmel, irdischer Poesie.