Wolfgang Hilbig Wolfgang Hilbig: Der Mann, der aus der Fremde kam
Halle/MZ. - Fruchtbarer Boden, künstliche Seen, riesige Abraumberge aus weißem Sand. Mittendrin das Kind, das ein Dichter werden sollte. "Also", sagt Hilbig, ich hatte alles: Wasser, Wüste, Wald".
Ein freies Kind
Man muss diese Landschaft zur Kenntnis nehmen, um Hilbigs Persönlichkeit zu begreifen. Der Vater bei Stalingrad gefallen, die Mutter eine Verkäuferin, die sich um ihren Sohn nicht kümmern kann, wächst das Kind bei seinen Großeltern auf. "Ich war eines der freiesten Kinder, die man sich vorstellen kann." Der Großvater, ein Bergmann, konnte weder lesen noch schreiben. Leute, die gelesen haben, empfand er als störend: Die machen sich nur verrückt, sagte der alte Herr. Bücher gab es nicht für das Enkelkind, also begann es selbst zu schreiben. Wild-West-Geschichten und Krimis zunächst. Entscheidend war das: Da schöpfte einer aus sich selbst heraus. Ohne einen irgendwie kulturell vermittelten Anlass. Kein: Du könntest. Du sollst.
Dabei ist es geblieben. Als eine Art Parsifal ging Hilbig, der in den 60er und 70er Jahren sein Geld als Werkzeugmacher, Hilfsschlosser und Heizer verdiente, durch die DDR. Als er Mitte der 60er Jahre einen "Zirkel schreibender Arbeiter" besuchte, saßen da Lehrer, Studenten, Hausfrauen. Hilbig war der einzige Arbeiter - und flog raus. In seinem Roman "Das Provisorium" ließ Hilbig die Figur des Schriftstellers C. sprechen: "Er hatte an der DDR, so wie er sie kannte, nichts zu kritisieren, er hielt das für zwecklos." 1979 erschien Hilbigs Lyrikdebüt "abwesenheit" im Westen. 1985 siedelte der Autor dem Buch hinterher; seit Anfang der 90er Jahre lebt er in Berlin Prenzlauer Berg.
Man kann die literarische Wirkung des ersten Hilbig-Gedichtbandes kaum überschätzen; sein Autor galt in den Ost-Kollegenkreisen fortan als heimlicher Star. Uwe Kolbe: "Er ist der größte von uns allen". Hilbig hatte die Politik sowie den ideologischen Küchen- und Party-Clinch hinter sich gelassen. Der Titel "abwesenheit" zielte auf ein poetisches, nicht politisches Programm. Sich an den Rand stellen. Distanz gewinnen, Differenz und Spiel, die poetische Lufthoheit.
Wahrnehmung schärfen
"laßt mich doch" hieß das erste Gedicht des Buches, das begann: "laßt mich doch / laßt mich in kalte fremden gehn / / zu hause / sink ich / in diesen warmen klebrigen brei / der kaum noch durchsichtig ist (...)". Mit seinen Erzähl- und Lyrikbänden ("Der Brief", "Alte Abdeckerei") sowie Romanen ("Ich", "Das Provisorium") schreibt Hilbig gegen das an, was er die "Entwirklichung" nennt: Jenes Sprachdiktat, das die Dinge und Verhältnisse verhüllt - im Dienst einer Ideologie vor 1989, einer virtuellen, aber doch hoch wirksamen Medien- und Konsum-Öffentlichkeit danach.
Der Schriftsteller als Erzieher gilt Hilbig indes als lächerliche Figur. Überhaupt begreift er Literatur nicht als ein intellektuelles, sondern triebhaftes Ereignis. Er setzt auf Wahrnehmungen statt Wahrheit: Solcherart bietet Hilbig ein oft schroffes, von Traum-, Reportage- und Essay-Sequenzen durchschossenes Wortwerk. Anregend immer, belebend, sehr frei. Frühestens im Herbst 2007 darf der Leser mit einer neuen Erzählung rechnen.