Winckelmanns Kunstrevolution beginnt in Dresden

Hamburg - Ihm war es nicht genug zu sagen, dass etwas schön sei. Er wollte auch wissen, warum. Allen voran sind es die Bildhauer und Maler der griechischen Antike, die Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) zum Höchsten in der Kunst erklärt.
Aus dem Geist der Aufklärung heraus beeinflusst er damit nicht nur maßgeblich die spätere Weimarer Klassik um Goethe, Schiller und Herder, sondern prägt auch das Antikenbild der Deutschen bis heute.
Ansässig in Sachsen macht er Mitte des 18. Jahrhunderts bereits mit seinen ersten Aufsätzen in der europäischen Gelehrtenwelt Furore. Ein Jahr vor seinem 300. Geburtstag erweitern die Stendaler Winckelmann-Gesellschaft und ihre Partnerinstitute nun mit den „Dresdner Schriften” ihre historisch-kritische Gesamtausgabe.
Als Winckelmann 1748 auf Schloss Nöthnitz nahe Dresden an einer der bedeutendsten deutschen Privatbibliotheken anheuert, findet er einen reichen Fundus vor. „Die Morgenstunden aber sind dem Griechischen gewidmet”, schreibt er von dort einmal an einen Freund. Später in Dresden geht er in der seit August dem Starken beträchtlich gewachsenen Antikensammlung mehr denn je dem Studium der Skulpturen nach. Noch kann keiner ahnen, dass der Schuhmachersohn aus Stendal die deutsche wie europäische Geisteswelt durcheinanderwirbeln und eine epochale Wirkung über seine Gegenwart hinaus erreichen würde.
1755 bringt Winckelmann seine vielleicht wichtigste Schrift heraus: In seinen „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst” mündet das Interesse an der Antike in einer emphatischen Verlebendigung des Altertums. Und diese steigert er in sein berühmtes Paradoxon: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.” Griechische Bildhauer hätten nicht allein die Natur nachgebildet, so Winckelmann angelehnt an Platons Ideenlehre, sondern ideale Schönheiten geschaffen.
Das grundlegend Neue daran: Die Hinwendung nach Athen hebt ihn von französischen und italienischen Kunsthistorikern seiner Zeit ab, die ihre Antikenbetrachtung größtenteils auf Rom beziehen. Gerade in griechischen Statuen sieht Winckelmann Körper und Seele in maßvollen Einklang gebracht. In seinen „Gedanken” erwacht die Formel, die später zu den bekanntesten Schlagwörtern der deutschen Klassik werden soll: Den Werken liege „eine edle Einfalt” - was damals soviel wie Reinheit des Geistes bedeutet - „und eine stille Größe” inne.
Wie etwa der berühmten Laokoon-Gruppe, die neben dem Apollo und dem Torso im Vatikan zu den künstlerisch höchsten Idealen Winckelmanns zählt. Der trojanische Prophet unterdrücke trotz der Schmerzen durch Schlangenbisse den Affekt: „So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten”, schreibt Winckelmann, „eben so zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele”. Er erhebe „kein schreckliches Geschrei, wie Vergil von seinem Laokoon singt”. Dass Winckelmann gleich einmal einen der antiken Gewährsmänner dieses Mythos rüffelt, daran reibt sich später nicht nur Lessing.
Was aber beweist: Winckelmanns Erst-Veröffentlichung schlägt heftig ein. Gottsched rezensiert sie noch im selben Jahr, bald gibt es französische und englische Übersetzungen, eine zweite überarbeitete und erweiterte Auflage erscheint bereits wenig später.
Mit dem neuen Band der Winckelmann-Gesellschaft wird der 50 Jahre alte Standardkommentar zu den frühen Texten - die „Kleinen Schriften” von 1968 - erheblich erweitert. So etwa veranschaulicht ein in Westeuropa bislang unbekannter, eigenhändiger Entwurf den Entstehungsprozess der „Gedanken”. Zudem geben Rezensionen dieser Zeit Einblicke in die damalige Gelehrtendiskussion um den Mann, der ein Jahrzehnt später als Chefaufseher der vatikanischen Altertümer grundlegend die Herangehensweise an Archäologie und Bildende Kunst verändert - indem er der erste ist, der antike Architektur und Kunst als stilistische Entwicklung in Epochen betrachtet.
Bildgewaltig ist seine Sprache. Oder wie Goethe schreibt: „barock und wunderlich”. Der Dichterfürst erklärt kurzerhand das 18. Jahrhundert zum Winckelmann-Jahrhundert und den Gelehrten selbst zum „neuen Kolumbus”, der „ein früher schon gekanntes und wieder verlorenes Land” entdeckt habe. Gemeint ist Griechenland. In See gestochen ist Winckelmann in Dresden - als er die Ästhetik revolutionierte.
- Johann Joachim Winckelmann: „Dresdner Schriften, Text und Kommentar”. Hrsg. von Adolf H. Borbein, Max Kunze und Axel Rügler, Verlag Philipp von Zabern, 514 S., 68,00 Euro, ISBN 9783805350457. (dpa)