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Wiederkehr der Wölfe nach Mitteldeutschland Wiederkehr der Wölfe nach Mitteldeutschland: Woher stammt die Angst vor dem Wolf?

Von andreas montag 06.12.2015, 18:29
Ein Wolf im Wildgehege Moritzburg.
Ein Wolf im Wildgehege Moritzburg. Symbol/dpa Lizenz

Halle (Saale) - Mit kaum einer Meldung ist mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen als jener regelmäßig wiederkehrenden, dass irgendwo in Mitteldeutschland ein neues Wolfsrudel heimisch geworden sei. Und wenn es nicht mal ein Rudel ist - schon ein einzelner Wolf, den ein Forstmann oder Wanderer irgendwo gesichtet haben will, reicht aus, die farbigsten Fantasien und die tiefsten Ängste der Menschen zu entflammen.

Das mag einem zunächst seltsam vorkommen, mangelt es dieser Tage doch leider nicht an Ereignissen und Vorgängen, die einen aus nachvollziehbarsten Gründen in tiefe Sorge stürzen können. Da gibt es an vorderer Stelle der Schreckensliste die Tätigkeit des sogenannten Islamischen Staates, der in Syrien und dem Irak Menschen abschlachtet, die sich nicht seiner wahnsinnigen, fundamentalistischen Logik fügen wollen.

Zudem schicken die gottlosen Gotteskrieger von eigenen Gnaden fanatisierte Mörder aus, um weltweit Furcht zu verbreiten. Und schließlich lässt sich der provozierte, verwundete Westen auf einen Krieg ein, von dem doch auch die Politiker wissen, dass er nicht nur mit Bombardements, sondern mit militärischen Mitteln überhaupt höchstwahrscheinlich nicht zu gewinnen sein wird.

Sorgen des Westens

Es gibt neben dem Terror-Thema allerdings noch weitere Sorgen: Wie soll es mit uns, den Bewohnern des Westens, weitergehen, wenn anhaltend viele Flüchtlinge namentlich nach Deutschland streben? Und mancher kümmert sich auch darum, was das eigentliche, das humane Problem hinter dem ist, was wir Flüchtlingskrise zu nennen gewohnt sind: Wie soll es mit den Menschen in den Krisenregionen des Nahen Ostens, wie soll es mit den Armen, von Bildung und Teilhabe Abgeschnittenen weitergehen? Welche Chancen haben sie? Und wie gut wollen wir es uns angesichts dieser Not gehen lassen?

Bei allem ist noch kein Wort darüber verloren, kein Gedanke daran verschwendet, welches Versprechen auf die Zukunft wir unseren Kinder wohl geben können, wenn sich die Veränderung des globalen Klimas nicht stoppen oder wenigsten bremsen lässt.

Aber nein: Nichts beschäftigt uns so sehr wie der Wolf. Und das scheint mit den beschriebenen Phänomenen durchaus in Zusammenhang zu stehen. Der Wolf, der uns als fieser, am Ende aber durch beherztes bürgerschaftliches Eingreifen bezwingbarer Killer erscheint, kommt dem verunsicherten Bewohner des viel beschworenen Abendlands im Grunde wie gerufen. Gäbe es seine Rückkehr in heimische Wälder nicht, man müsste ihn glatt ansiedeln.

Märchen haben an allem Schuld

Schuld an allem sind die wunderbaren Märchen. „Rotkäppchen“ zuerst, der Klassiker schlechthin. Aber auch „Der Wolf und die sieben Geißlein“ ist ein Schocker, den jeder noch aus Kindertagen parat hat - beide Male gibt es erstens eine nachvollziehbar schlichte Moral. Zweitens, und das ist das Wichtigste: Die Geschichten gehen gut aus. So wünscht man sich die Welt.

Erinnern wir uns an Rotkäppchen, das kecke, fröhliche Mädchen, das von seiner Mutti mit Kuchen und Wein zur Oma in den Wald geschickt wird, wo die alte Dame, bettlägerig obendrein, alleine wohnt. Das arglose Rotkäppchen verlässt den rechten Weg (man kann auch sagen: Den Pfad der Tugend) und geht prompt dem listigen Wolf auf den Leim. Schwupps, schon hat er beide, die Oma wie das Mädchen, gefressen. Ähnlich läuft die Geschichte bei den sieben Geißlein, die gleichfalls nicht der mütterlichen Mahnung folgten. Aber auch sie kommen mit dem Schrecken davon.

Das gute Ende lässt uns noch mal ordentlich schaudern. „Rotkäppchen aber dachte: ,Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat‘.“ Ja, damit kann man etwas anfangen. Und mit dem Jäger auch, der die Ordnung wieder hergestellt hat. So soll es heute auch sein. Ein starker, unerschrockener Mann, der dem Monstrum den Bauch aufschlitzt, die Opfer befreit und den Schurken seiner gerechten Strafe zuführt.

Der schwedische Möbelbastlerkonzern Ikea, nicht frei von ironischen Anwandlungen, hat vor einiger Zeit die bedrohte Kleinfamilie von Rotkäppchen und den gefräßigen Wolf als Stoff-Helden in seinem Seitensortiment der kleinen Nettigkeiten angeboten. Hier wird gern zugegriffen, man kann mit den Kindern das Märchen wunderbar nachspielen. Rotkäppchen, ein properer Teenie, und die verhärmte, kleine Oma passen mühelos in den Räuberbauch - und kommen mühelos auch wieder heraus.

Kuscheln statt fürchten

Aber sogar den Wolf kann man durchaus gern haben, er verliert in dieser spielerischen Anordnung seinen Schrecken, weil er eben auch ganz kuschelig ist. Ob das den Artgenossen in den wirklichen Wäldern und Furen nützt, steht freilich dahin. Landwirte fürchten um ihre Schafherden und überhaupt ist die überwiegende Mehrheit der Meinung, so scheint’s, die schrecklichen, blutsaufenden Biester gehörten abgeknallt. Einige Fälle von Lynchjustiz sind ja bereits vermeldet worden.

Nun kann man wahrhaftig auf den Gedanken kommen, der märchenhafte Bösewicht sei in seiner realen Verkörperung tatsächlich der Sündenbock der Gegenwart. Denn das Wichtigste am eigenen Unwohlsein, wenn man es denn schon verspüren muss, ist doch, dass man sich seiner zu entledigen weiß. Anders gesagt: Nichts ist unangenehmer als zu erkennen, komplizierten Weltlagen nicht mit einfachen Mitteln beizukommen.

Donald Tusk zum Beispiel, dem aus Polen kommenden, eigentlich liberalen Ratspräsidenten der Europäischen Union, ist durchaus zuzutrauen, dass er um die Not der Flüchtlinge weiß, die nicht aus Abenteuerlust ihre Heimat verlassen. Und doch will er sie lieber wegzaubern, irgendwo hinter die Grenzen Europas. Dann hätten wir mehr oder weniger guten Christenmenschen eine große Sorge weniger. Aber es ist eben ein Ding der Unmöglichkeit, weltweit zu kommunizieren, global erzielte Kapitalgewinne zu maximieren und sich zugleich satt in der nationalen Stube hinter reinlichen Butzenfenstern einzuschließen.

Wenn man aber doch mit dem Gedanken spielt, dann will man wenigstens mal einen netten Verdauungsspaziergang machen. Da sollten draußen keine Wölfe sein. (mz)

Das große Fressen mit Ikea-Puppen
Das große Fressen mit Ikea-Puppen
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