Vergessen ist Verrat Vergessen ist Verrat: Irina Liebmann vollendet ihre Berliner Recherchen

Halle (Saale) - Im Jahr 1982 veröffentlichte Irina Liebmann den Erzählband „Berliner Mietshaus“. Ein Haus in Berlin Prenzlauer-Berg und seine Bewohner, das war das Thema. Eine Art Dokumentarliteratur, wie sie in den Zeiten der gesellschaftlich-politischen Ernüchterung auch im Osten wieder im Schwange war. Zurück zu den Tatsachen sollte es gehen, das hieß zurück zu den Menschen und nicht zu einer fabelhaften „Menschheit“.
Irina Liebmann, die ihre schriftstellerische Laufbahn mit Reportagen für die Berliner „Wochenpost“ begann, war für solche Einsätze genau die Richtige. 1943 in Moskau als Tochter einer russischen Germanistin und des deutschen Journalisten Rudolf Herrnstadt geboren, war sie im Osten dabei, ohne ihm vollständig zurechenbar zu sein.
Sie bewahrte sich immer einen Grad von Freiheit, der sich in ihren Büchern mitteilt. Bücher wie „In Berlin“, „Die freien Frauen“ oder das 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Buch „Wäre es schön? Es wäre schön!“, ein Buch über ihren Vater, der den Berliner Verlag und das „Neue Deutschland“ gegründet hatte, 1953 von der SED-Spitze von seinen Posten entfernt und als Leiter des Staatsarchivs nach Merseburg strafversetzt wurde. Von 1955 an lebte die Familie in Halle, das Irina Liebmann 1961 nach Berlin verließ.
Abschieds-Bevollmächtigte
Dort lebt die Autorin, die 1988 von Ost- nach Westberlin übersiedelt war, bis heute. Von dort aus beschreibt sie die Welt, zu der das Vergangene genauso gehört wie das Gegenwärtige. Denn das Vergangene ist eine Funktion der Gegenwart, so lange wie es verdrängt wird. Das erst Vergangenheit werden, von dem erst Abschied genommen werden kann, wenn es öffentlich benannt ist. Diese Öffentlichkeit sucht Irina Liebmann. Insofern ist sie mit ihrer fortgesetzten Recherche-Prosa keine Berliner Abschnitts-, sondern Abschieds-Bevollmächtigte. Nun auch in eigener Sache.
„Die Große Hamburger Straße“ heißt das neue Buch der 76-Jährigen, das sie noch einmal zurückführt zu ihren literarischen Anfängen. Noch einmal nimmt sie ihre Unterlagen von Anfang der 1980er Jahre in die Hand. Recherchen im Stadtarchiv und Protokolle von Gesprächen, die sie mit Bewohnern der nur 400 Meter kurzen Straße führte, die in Berlin-Mitte zwischen der Oranienburger und August-Straße liegt. Die Welt in der Nussschale, in der es eine protestantische Kirche, ein katholisches Krankenhaus und einen uralten jüdischen Friedhof gibt. Eine Straße, die ein Mensch nie hätte verlassen müssen, weil immer alles da war, sogar ein Sargladen.
So wie die Hausnummern einer Straße vom Stadtinneren nach außen gezählt werden, erzählt Liebmann die Geschichte ihrer Recherche von sich selbst aus in die Gegenwart, die hier die Gegenwart des Jahres 2015 ist. Die erfüllt die Erzählerin mit einem Gefühl des Abschieds, der Endzeit, des persönlichen Versagens. „Als ob einer vollen Badewanne jemand den Stöpsel gezogen hat, so fühlt es sich an, dieses Abfließen, dieses Ausdünnen, dieses Verschwinden einer ganzen Kultur, von der man gestern noch geglaubt hatte, dass sie endlos, ja, endlos sich fortsetzt, entwickelt sogar, und - nichts!“ Dass alles „vergeigt“ sei, sagt Eva, die Freundin. Die Erzählerin antwortet: „Wir sind es selber gewesen.“
Irina Liebmann erzählt lebhaft und direkt
Die Dinge müssen zum Ende kommen, schreibt Irina Liebmann. Aber es ist gar nicht so einfach, ein Ende zu finden, wenn es zwar fühlbar da, aber noch nicht sichtbar ist. Wie im Fall der Großen Hamburger Straße, deren Eckhäuser fehlen. Zwischen dem ersten und letzten Haus spielte sich das Leben ab. Dessen Leerstellen nimmt Irina Liebmann in den Blick. Erzählerisch schneidet sie die Gegenwart des Jahres 2015, die Vergangenheit von 1983 und die an den Menschen sichtbar gemachte Vorvergangenheit ineinander, die bis ins 18. Jahrhundert reicht, als im Monbijou-Park an der Spree noch das namengebende Schlösschen stand.
Der Leser erlebt, wie Irina Liebmann 1983 treppauf, treppab die vom Krieg unzerstörten Häuser abläuft. Klingeln, Fragen stellen. Klingeln, aufschreiben. Wer wohnte hier? Wie? Was hat er erlebt, was gesehen? Eine Sozialgeschichte „en passant“, die in dem nunmehr durch Mauerfall und DDR-Ende geschärften Rückblick zusätzlich an Interesse gewinnt. Kleine Beobachtungen inklusive, wie die, dass die Berliner ihre Mutter ein Leben lang ohne jedes Gefühl der Peinlichkeit „Mutti“ nennen, so wie die Russen ihre Mutter „Mama“. Und Einblicke wie diese: Der Abtransport der Juden aus der Großen Hamburger Straße geschah am hellichten Tag. Unter vielen Augen. Unter denen, die es sahen, fielen Sätze wie: „Machen Sie sich nicht zum Zeugen!“
Irina Liebmann erzählt in kürzeren Partien, lebhaft, direkt, geradezu musikalisch: „Das Haus Nummer eins steht im Regen, im Schnee, ein Eckhaus, ein Dreckhaus, wer kommt aus der Tür? Ist einer noch drinnen, ist einer noch hier?“ Ein Elan, der nie kitschig ist, der es dem Leser leicht macht, der Autorin in ihren ernsthaften Fragen und Befunden zu folgen. Zum Beispiel diesem: „Vergessen ist auch ein Verrat. Und Verrat, das ist einfach die Undankbarkeit, so ist das, jetzt wird es mir klar, ja, das ist die Wurzel, die heiße Wurzel von allem, was schieflief, was immer schon falsch war - die Wurzel heißt Undankbarkeit.“ Absatz. Und: „Das Leben ist dazwischengekommen.“
Lesen, nur Lesen hilft
Undankbarkeit? Das meint das Ausblenden von Vergangenheit. Das Unsichtbarmachen von Menschen, von Leistungen, von Lebensmöglichkeiten, die eben auch diese alte Straße geboten hat. „Weggeworfen“, sagt die Erzählerin 2015. „Wir haben es weggeworfen. Doch darüber reden wir jetzt nicht mehr, im Café“.
Das ist auch nicht notwendig. Die Menschen, die in diesem schwungvoll komponierten Buch zu Wort kommen, reden viel. Und es lohnt sich, ihnen zuzuhören. Zum Beispiel der alten Frau, die aus den Schrecken der Diktatur und des Krieges diese eine Erfahrung mitgebracht hat: „Und wissen Sie, was als Einziges hilft gegen Angst? Lesen. Nur Lesen.“
››Irina Liebmann: Die große Hamburger Straße, Schöffling Verlag, Frankfurt am Main, 240 Seiten, mit acht Fotografien der Autorin, 22 Euro (mz)