"Stierblutjahre" "Stierblutjahre": Autorin Jutta Voigt fängt Geist des Ostens ein
Halle (Saale) - Madleen war 17, als sie innerhalb der DDR erstmals die DDR verließ. 1958 betrat die Schülerin einen Ort in Ostberlin, der nicht nach Hauptstadt der DDR aussah, sondern nach Paris. Der „Klub junger Künstler“ in der Klosterstraße bot alles, was ein Mädchen erhoffte, das nicht nach noch mehr ostdeutschem Sinn, sondern nach etwas Leichtsinn suchte.
Jutta Voigt fängt den Geist des Ostens ein
Dunkle Wände, rotes Licht, Jazz. Barfuß tanzende Frauen in schwarzen Existenzialisten-Klamotten. Männer in Rollkragenpullovern. Einer sang vom Mond in Alabama. Ein anderer forderte den Pianisten auf, einen Blues in F-Dur zu spielen, zu dem er zu singen begann. Ein noch unbekannter Schauspieler. Der warf sich kurz darauf am Tresen mit der Brecht-Tochter Barbara spitze Bemerkungen zu, bevor er für sie zum Banjo griff. Bis ins Alter hat sich Manfred Krug diese Grundlässigkeit bewahrt, die Madleen bestaunen konnte. „Noch war sie Zuschauerin, aber sie hatte das andere Leben gesehen. Vom Rand aus sieht man besser.“
Madleen ist der zweite Vorname der Journalistin Jutta Voigt, eine der wenigen namhaften Reporterinnen in der DDR. Von 1966 bis 1990 schrieb sie für die Wochenzeitung „Sonntag“, danach für das Nachfolgeblatt „Freitag“, die „Wochenpost“. Seit Jahren versucht sie, den Geist der Ost-Jahre einzufangen. Mit journalistisch geschärften Essays wie „Der Geschmack des Ostens - Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR“ oder „Westbesuch - Vom Leben in der Sehnsucht“. Nun ist die sogenannte Boheme dran, das Kultur-Milieu, das eigenen Regeln folgen wollte.
Bericht aus der staatsnahen DDR-Gesellschaft
„Stierblutjahre“ heißt das Buch, benannt nach dem im Osten viel getrunkenen ungarischen Rotwein. Den gibt es heute noch, im Gegensatz zu dem Milieu, das Jutta Voigt beschreibt und das kein politisch oppositionelles, sondern ein lebensweltlich libertäres war.
Nun ist die Gegenkultur kein neues Thema, im Gegenteil. Trotzdem ist das Voigt-Buch interessant, weil es aus der staatsnahen Gesellschaft berichtet. Viele der Akteure waren Mitglieder der SED, sie litten unter der Alltagskultur, die sie gleichzeitig mittrugen, was auch absurd war, von Voigt aber nicht eigens befragt wird. Die Party hat eben immer recht. Die Autorin will die flüchtigen Momente einfangen. Sie bietet Vorstufen zu einer Chronik der Gefühle der um 1940 geborenen, anfangs DDR-begeisterten Elite. Bekannt ist heute eher die Erzählung von der Gegenspur.
Wolf Biermann konnte nicht tanzen
Jutta Voigt ist in wesentlichen Zügen die Madleen, von der sie erzählt. Die beginnt ihre Erinnerungen im letzten Berliner Boheme-Treffpunkt ihrer Generation, dem Nachwende-Lokal „Lampion“. Hier strandeten nach 1990 die aus der DDR Geworfenen, Männer wie der Dichter und Salon-Stalinist Peter Hacks, müde, aber erlösungsbereit. Der „Lampion“: ein „Zufluchtsort für aus dem Nest gefallene Vögel, die niemals flügge werden mussten“. Die meisten „sahen schwarz, wenn sie nicht blau waren.“
Voigt zieht durch die von ihr identifizierten Quartiere der Ost-Boheme: den Kulturbund-Klub „Möwe“, das „Pressecafé“ an der Friedrichstraße. Die Geselligkeiten in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik fehlen. Großartig ist Voigt, wenn sie nah an ihren Erfahrungen, ihrer Klientel schreibt. Sie liefert eine Art „Bunte“ für die hauptstädtische Kultur-Szene. Wir sehen, wie die Theaterchefin Helene Weigel nach Silvesterpartys über die Straße getragen wurde, erfahren, dass Wolf Biermann nicht tanzen kann und dass das Attribut „prominentengeil“ im Fall einer DDR-bekannten Grafikerin buchstäblich zutraf. Strittmatter, Schall, Sitte: Alle waren fällig. Ihr erstes Opfer fand die Liebende mit 15 Jahren. Es war der alte Bildhauer Fritz Cremer: „Ich möchte Ihnen zum 1. Mai gratulieren, Herr Professor, darf ich Ihnen Modell stehen?“
Besäufnisse, Affären - „Heiterkeit" in der DDR
Leider entschloss sich Jutta Voigt dazu, mit ihrem Buch eine Komplett-Geschichte der DDR-Boheme zu liefern. So begibt sie sich in das 80er Jahre-Milieu, das ihr politisch und lebensweltlich fremd ist. Was sie über Berlin hinaus notiert, besteht aus Angelesenem. Interviews füllen den Band.
Unter diesen ist das mit der 1951 geborenen Autorin Katja Lange-Müller lesenswert, weil sie wenig mit der Autorin harmoniert, die gerne nach der Heiterkeit zu DDR-Zeiten fragt. „Wir hatten nichts zu lachen“, sagt Lange-Müller. „Da waren Menschen, die glaubten, dass sie Künstler sind und als solche auch leben wollten, und das durften sie nicht.“ Statt dessen: Besäufnisse, Affären. „Ich habe damals schon manchmal gedacht, ich ziehe in die Schilkin-Flasche und bezahle die Miete an VEB Bärensiegel.“ Hier spricht ein entschieden anderer Ernst.
So wird die Voigtsche „Möwen“-Boheme im Rückblick mehr als ein Lifestyle, denn als eine Lebenshaltung kenntlich. Mehr Schickeria als Underground. Mehr Kultur- als Kunst-Milieu. Für das Politische hatte diese vergnügte Oberschicht keinen praktischen Begriff: „Das echte Volk hat mich nie interessiert, nur die Idee von ihm“, sagt der befragte Brecht-Assistent. Kurz gefasst: ein Hoch auf uns. Dieser selbstverliebten DDR-Elite zu folgen, hat - bei aller Redseligkeit und Weichmalerei („Es war einmal ein Land...“), die sich Jutta Voigt auch gestattet - einigen kulturgeschichtlichen Reiz.
Jutta Voigt liest in Halle aus „Stierblutjahre“: 25. Oktober, 20.15 Uhr, Thalia Halle, Marktplatz 3, Eintritt zwölf, ermäßigt zehn Euro. Karten in der ersten Etage bei den bestellten Büchern.
(mz)
