Rio Reiser Rio Reiser: Der «König von Deutschland» sang barfuß

Stadum/dpa. - Rio Reisers Tod riss vor 10 Jahren ein Loch in die deutsche Musiklandschaft. Es fehlt die verwaschene, raue Stimme,das Ehrliche dieses spindeldürren Mannes. Des «Königs vonDeutschland», der barfuß über die Bühne sprang, ekstatisch von Liebeoder Umsturz sang, mühelos mit Sprache spielte. «Rio war neben UdoLindenberg die prägende Figur der deutschsprachigen Popmusik», sagtein Weggefährte, der Theaterchef Corny Littmann. Die vielen jungenBands, die heute intelligenten deutschsprachigen Pop machen,verdanken ihm viel. Am 20. August 1996 endete auf einem Bauernhof inStadum-Fresenhagen westlich von Flensburg Reisers wildes Leben: Erstarb mit 46 an Herz-Kreislauf-Versagen. Frühere Drogenexzesse mögendaran Anteil gehabt haben.
Die Ostseeinsel Fehmarn ist wahrlich nicht als Brennpunkt von Sex,Drogen und Rock'n'Roll bekannt. Doch hier gibt Jimi Hendrix wenigeTage vor seinem Tod im September 1970 sein letztes Konzert. Beidiesem völlig verregneten «Festival der Liebe» kommt im schlammigenAcker nur Stunden später die erste Karriere von Rio Reiser in Gang:«Hallo! Wir heißen: Ton! - Steine! - Scherben!», ruft er insMikrofon. Während Rio als Frontmann «Macht kaputt, was euch kaputtmacht!» singt, geht das Organisationsbüro in Flammen auf. DasFestival endet im Chaos. Reisers Band aber wird schlagartig bekannt.
Obwohl Kenner die Platten der «Scherben» zu den einflussreichstenAlben der 70er Jahre zählen, häuft die Gruppe mit den Jahren nureines an: riesige Schulden. «Wenn wir für einen Auftritt mal 300 Markbekommen haben, war das viel, und man musste darum kämpfen», sagt RioReisers Bruder Gert Möbius. Oft spielen Reiser, Gitarrist R.P.S.Lanrue und die anderen für Ehre und Biere. Zugleich werden sie Ikonender West-Berliner Hausbesetzerszene und der Linken. Rio schreibtLieder, die zu Slogans werden, wie «Keine Macht für niemand» und«Wenn die Nacht am tiefsten ist». Letzteres fußt auf einem Ho-Chi-Minh-Zitat.
1985 zerbricht die Band. «Unsere Schulden waren auf 500 000 Markangewachsen, und wir sahen keine Chance, sie jemals zu bezahlen»,schreibt Reiser in seiner Autobiografie. Eines Abends sei ihm derGedanke gekommen «auf den Strich zu gehen» - musikalisch. Und sobeginnt er mit dem Album «Rio I.» seine zweite Laufbahn - solo. Stattlinker Buchläden soll nun eine große Plattenfirma seine neuen Titelvertreiben. Die linke Szene schreit auf, aber Reisers Kompositionen«König von Deutschland», «Alles Lüge» und «Junimond» werden bekannteCharterfolge und zeitlose Klassiker.
«Dass seine Lieder später mehrfach gecovert wurden, beweist dochihre Qualität», sagt Littmann. Doch viele politisch Bewegte werfenReiser Verrat vor. Dass die Hits zum Teil noch aus der «Scherben»-Zeit stammen und die wenig erfolgreiche Auskopplung «Menschenfresser»inhaltlich nahtlos an alte Politsongs anknüpft, nehmen Wenige wahr.Viele stoßen sich am neuen glatten 80er-Sound aus dem Profi-Studio.
Doch Rio Reiser hat sich nicht aus der Politik verabschiedet. 1986singt er beim Anti-Atom-Festival in Wackersdorf am Klavier dasFinale: «Somewhere Under The Rainbow». Der Sänger mit den linkenIdealen engagiert sich bei den Grünen - und wird enttäuscht. «Siehaben sich nicht für seine politischen Ideen interessiert», sagtMöbius. Reiser wechselt zur PDS. «Er wollte verhindern, dass derOsten untergepflügt wird.» Doch auch hier habe er sich nur alsAushängeschild gefühlt.
Das Wechselspiel zwischen künstlerischer Disziplin undAlkoholexzessen sowie illegalen Drogen hätten den «Prozess despersönlichen Zerfalls» begünstigt, sagt Littmann. An einem heißenAugusttag findet ihn Reisers Lebensgefährte tot auf. Blixa Bargeld,Sänger der Einstürzenden Neubauten, schreibt im Nachruf: «Ich habenoch nie jemanden in Deutschland singen gehört und gesehen, der wieRio in der Lage war, innerhalb von Sekunden eine intime Beziehung,geradezu eine Liebesbeziehung, mit jedem einzelnen seiner Zuhöreraufzubauen.» Sein Grabstein hat die Form eines Herzens. Davor ehrenzwei metallene Kronen auf Zeptern den «König von Deutschland».