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Rezension Rezension: Schmidt und Stern über «Unser Jahrhundert»

Von Thomas Strünkelnberg 26.04.2010, 06:21

HAMBURG/DPA. - Das Buch stürmte geradezu die Bestsellerlisten:«Unser Jahrhundert», ein Gesprächsbuch von Helmut Schmidt (91),Altbundeskanzler, und Fritz Stern (84), Historiker, lockt nichtallein mit Altersweisheit, sondern ist erfrischend deftig. Schmidtschimpft Kaiser Wilhelm II. unumwunden einen «Maulhelden» und einen«Scheißkerl», die Neokonservativen in den USA als «Rechtsradikale».Im Verlauf von drei Tagen besprechen die alten Herren ein ganzesJahrhundert - schwankend zwischen Witz, Weisheit und einer PriseVorlesung.

Ohnehin ist Schmidt für die Deutschen in seinen späten Jahren zueinem Monument geworden. Da erwartet jeder Großes, wenn der frühereBundeskanzler den Anstoß gibt: «Fangen Sie an, Fritz.» Zwar erinnertgerade Schmidt gerne, manchmal allzu gerne an all die berühmtenLeute, mit denen er sich treffen konnte. Aber faszinierend an demBuch ist vor allem der weite Horizont der beiden alten Herren, derenGespräch zwischen Bismarck und Johannes Paul II., zwischenSozialpolitik und dem Aufstieg Chinas elegant hin- und herlaviert.

Eintönig wird das Gespräch nie: Schmidt beklagt, kaum jemand inDeutschland wage Kritik an Israel zu üben - «aus Angst vor demVorwurf des Antisemitismus», die Macht der Political Correctness inAmerika geißeln die Autoren ebenfalls. Außerdem mutmaßt Schmidt mitBlick auf Nazi-Terror und Verbrechen düster, die Deutschen seienverführbarer als andere Völker.

Im Mittelpunkt des Gesprächs stehen denn auch die Verbrechen derNazis. Diese trieben Stern als Juden in die Emigration und sind dasgroße Trauma für beide - und für Millionen Menschen. Letztendlichschlüssig erklären allerdings, wie die Verbrechen der Deutschenmöglich waren, kann weder der Staatsmann und oft schroffe PragmatikerSchmidt noch der Intellektuelle, der Historiker Stern.

Und so oft sie sich auch einig sind, an einem entscheidenden Punktsind sie es nicht, und da nimmt das Buch eine Wendung insPersönliche: Auf die Frage Sterns, der nach eigenen Worten bis 1933nicht wusste, dass er Jude war, nach den Ursachen für den Holocaustund die Verfolgung der Juden sagt Schmidt: «Man hat es einfach nichtmitgekriegt.» An der Stelle bricht es aus Stern heraus: «Nein, nein.Millionen von Deutschen müssen es gesehen haben, denn sie haben jagebrannt, die Synagogen - überall im ganzen Land.» Es ist dieentscheidende Frage, die sich nach dem Krieg wohl viele Menschengestellt haben.

Das Buch zeichnet einen regen und mitreißenden Austausch nach.«Alles aber, was ein lebendiges Gespräch ausmacht - das Kursorische,Mäandernde, Improvisierte - wurde so weit wie möglich beibehalten»,schreiben die beiden Autoren im Vorwort. Das hilft - und macht dieunmittelbare Wirkung dieses Gesprächs aus. In diesem ist Schmidt derStreitbare, Stern der Ausgleichende. Und so bekommt auch die aktuellePolitik in Deutschland ihr Fett weg, wenn der Ex-Kanzler etwa gegendie FDP schießt: Denn zu deren Parteichef und Außenminister GuidoWesterwelle fällt ihm nur ein: «Wie heißt er noch?»

Infos des C.H. Beck Verlags zu dem Buch: http://dpaq.de/8mA1e