Reiner Kunze Reiner Kunze: Ernstfall eines deutsch-deutschen Schriftstellers

halle/MZ - Am 18. April 1977, drei Tage nachdem Reiner Kunze vom vogtländischen Greiz aus in den Westen übersiedelt war, gibt der Schriftsteller sein erstes TV-Interview nach der Ausreise. Im ARD-Magazin „Report“ spricht der 43-Jährige über die Lage in der DDR. Kunze nimmt kein Blatt vor den Mund. „Von dort“, sagt er, „und damit meine ich nicht die Himmelsrichtung, den Osten, sondern ich meine das jetzt dort real existierende gesellschaftliche System, von da her kommt kein neuer Anfang für die Menschheit, von da her nicht.“
Kein neuer Anfang. In diesem Moment schließen sich für Reiner Kunze reihenweise Türen im Westen. Türen, die sich bis heute nicht mehr öffnen sollten. Kunze, der nach der West-Veröffentlichung der im Blick auf die Ost-Wirklichkeit schonungslosen Prosa-Miniaturen „Die wunderbaren Jahre“ (1976) aus der DDR vertrieben worden war, muss erleben, dass eine schonungslose DDR-Kritik in der Bundesrepublik nicht durchweg willkommen ist. Im Gegenteil. Der Zeitgeist steht links. Das tonangebende publizistische und künstlerische Milieu will zwar keinesfalls im Osten leben, dort aber das „bessere“ Deutschland vermuten dürfen. Man nimmt dem Dichter übel, was ihm angetan wurde. So ist Reiner Kunze der Ernstfall des deutsch-deutschen Dichters: im Osten verfolgt, im Westen geschmäht.
Kunze, der Bergarbeitersohn aus dem erzgebirgischen Oelsnitz, der als 16-Jähriger (!) in die SED gelangte, am „Roten Kloster“ in Leipzig zum Journalisten ausgebildet wurde, wo er erst vorbildlich mitlief, 1959 zu funktionieren aufhörte und 1968 - mit der Niederschlagung des Prager Frühlings - die SED verließ. Dieser Autor wird im Westen an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt. Er wird als „Reaktionär“ beschimpft, von Drohbriefen heimgesucht.
1992 verlässt Reiner Kunze die Akademie der Künste in Westberlin. Führende Akteure hatten dem Kollegen schon Jahre zuvor nicht mehr die Hand gegeben. Man würde gern einmal eine Geschichte der Berliner Akademie der Künste lesen, die sich den politischen Kampagnen im eigenen Haus stellt, und das bevor alle Erinnerungen und das Interesse daran verschwunden sind. So hält sich Reiner Kunze auch zwangsläufig fern vom Literaturbetrieb. Obernzell bei Passau, wo der Dichter seit 1977 lebt, liegt fern von Berlin. So wie einst Greiz.
Dabei ist Kunze gar kein politischer Dichter, aber einer, der dem Politischen nicht - wie oft üblich - ins Allgemeine, Verschrobene oder Verlogene ausweicht. Längst legendär ist im Osten die Reclam-Gedichtauswahl „Brief mit blauem Siegel“ (1973): der - mit zwei Auflagen von jeweils 15.000 Exemplaren - wahrscheinlich erfolgreichste Lyrikband eines Einzelautors in der DDR überhaupt! Aber die Wirkung ließ sich noch steigern. In den 80er Jahren ein Exemplar des von Westen her eingeschleusten Kunze-Gedichtbandes „auf eigene hoffnung“ (1981) in der Hand zu halten, wirkte wie ein Gegengift. Ein Buch mit dem Motto: „des fahnenhissens bin ich müde, freund“. Hier fing etwas Neues an. Eine Poetik hinter den politischen Illusionen. Eine Haltung zeigte sich, die geistig für die späte unabhängige Literatur in der DDR hätte anschlussfähig sein können, wäre sie wirklich unabhängig gewesen.
Der verwehrten gesellschaftlichen begegnet Reiner Kunze mit einer persönlichen Öffentlichkeit, einem Netzwerk an Freunden und Gefährten. Die Leser folgen Kunze sowieso; bis heute füllt der Dichter der in der Bildsprache überaus zarten, in der Sache eindeutigen Poesie mühelos ganze Säle. Reiner Kunze ist ein Volksdichter, auch wenn er entgegnen würde, dann müsste das Volks sehr klein sein.
Aus der Kunzeschen Gegenöffentlichkeit liegen nun zwei Bücher vor, die den Dichter feiern. Ein Lesebuch sammelt Stimmen zu Reiner Kunze. Zu den rund 40 Autoren gehören Wolf Biermann, Horst Drescher, Karl Corino, Uwe Grüning, Wulf Kirsten, Marko Martin, Dirk von Petersdorff und Jan Wagner, die Lektüre- und Lebenserfahrungen liefern, die sie mit dem Wirken Kunzes verbinden. Je persönlicher, um so eindrucksvoller - und unterhaltsamer. Wulf Kirsten: „Meinen kleinen Söhnen schenkte er Teddybären, einer überlebte die ganze Kindheit und wurde nur der ,Kunze’ genannt.“
Udo Scheer, der auch zu den Beiträgern des Lesebuches gehört, kommt das Verdienst zu, dieser Tage die erste Kunze-Biografie vorzulegen. „Dichter sein“ heißt das Buch, das dem Schriftsteller so nahe kommt wie keine Veröffentlichung zuvor. In nur kurzer Zeit ist das Buch entstanden, das an ausführlichen Selbstaussagen von Reiner Kunze entlang gestaltet ist und neue, größtenteils aus Kunzes Privatarchiv gezogene Befunde liefert. Zum Beispiel den, dass das DDR-Büro für Urheberrechte auf die Veröffentlichung des in DDR als staatsfeindlich verunglimpften Buches „Die wunderbaren Jahre“ in der Bundesrepublik nicht verzichten wollte. Scheer: „Die zu erwirtschaftenden Devisen wogen schwerer als inhaltliche Bedenken.“
Dem bei Jena lebenden Autor, der bereits Bücher über die Schriftsteller Jürgen Fuchs und Günter Ullmann verfasste, kommt seine nähere Kenntnis der Thüringer Verhältnisse zugute. Vielleicht zu sehr, denn das Literarische kommt zu kurz, auch die geistige und literaturhistorische Dimension von Kunzes Schreiben. So liegt hier ein Buch vor, das als politische Biografie besser bezeichnet wäre.
Die liest man mit Spannung. Auch der Einsatz von Reiner Kunze als anfangs linientreuer Assistent an der „Rotes Kloster“ genannten Journalistenschule gewinnt an Kontur. Man liest und lernt. Und staunt. Über eine 1977 von der Stasi notierte Telefonaussage von Reiner Kunze über den DDR-Schriftstellerverbands-Präsidenten Hermann Kant: „Es ist möglich oder sogar wahrscheinlich, daß ich Herrn Kant nicht überleben werde, bestimmt aber werde ich nicht an ihm zugrunde gehen.“ Heute wird Reiner Kunze 80 Jahre alt.