Politische Literatur Politische Literatur: Immer noch ein Bestseller: Leonhard und die Revolution

Manderscheid/dpa. - Er war einer von zehn Männern, die auf Geheißvon Josef Stalin 1945 bei Kriegsende im sowjetisch besetztenDeutschland einen neuen sozialistischen Staat aufbauen sollten. Dochder heute 84-jährige Wolfgang Leonhard hat es sich damals andersüberlegt. Aus dem gläubigen Genossen wurde ein Kritiker derKommunisten, später ein Gegner. Das Buch, in dem er seine Wandlungbeschreibt, gehört zur wichtigsten und spannendsten Literatur derdeutschen Zeitgeschichte: «Die Revolution entlässt ihre Kinder». Eswird am 3. September 50 Jahre alt, verkauft sich immer noch gut undwird weiter viel gelesen. Bislang ist der Weltbestseller inDeutschland 600 000 Mal verkauft und in 14 Sprachen übersetzt worden.
«Das Buch ist aktueller als man vermuten würde. In den letztenJahren wird es von jungen Menschen immer mehr entdeckt. Menschen, fürdie der Zweite Weltkrieg ähnlich weit entfernt ist wie die Kreuzzügeoder die Völkerwanderung», sagt Historiker Leonhard, der 21 Jahre ander US-Elite-Universität in Yale als Kommunismusexperte lehrte. Essei ein neues Interesse der Jugend an der Vergangenheit Deutschlandsspürbar, die die Geschichte ohne Vorbehalte kennen lernen wollte.«Ich bekomme jetzt mehr Briefe zu meinem Buch als vor zehn Jahren undich werde zu mehr Vorträgen eingeladen als in den ganzen 40 Jahrenzuvor», sagt der gebürtige Wiener.
Mit solchem Widerhall hatte Leonhard nicht gerechnet, als er 1953damit begann, in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Köln seine internenKenntnisse über das System der Sowjetunion aufzuschreiben. «Mein Zielwar es, weder etwas Verherrlichendes noch etwas Verurteilendes zuschreiben. Ich wollte es nur richtig darstellen», sagt Leonhard. Einobjektives Buch habe es 1950 nicht auf dem Markt gegeben. «Es gab 5Prozent Lobeshymnen-Literatur und 95 Prozent Bücher, die das MoskauerSystem verurteilen wollten.»
Leonhard war 1935 als 14-Jähriger mit seiner kommunistischenMutter vor Hitler nach Moskau geflohen. In der Komintern-Schule, derideologisch-politischen Ausbildungsstätte für ausländischeKommunisten, wurde er zum treuen Parteifunktionär geformt. Mit 23Jahren war er der jüngste in der nach dem späteren DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht benannten «Gruppe Ulbricht»,dem die sozialistische Mission in Deutschland zugetraut wurde. VierJahre später flüchtete er nach Jugoslawien, wo der einstige PartisanJosip Broz Tito sich gerade von Stalin losgesagt hatte und einenreformsozialistischen Weg beschritt.
Nach dem Erscheinen seines Buches 1955 habe sich sein Lebendramatisch verändert. Ein Professor aus Oxford besuchte ihn und ludihn an die britische Universität ein. Nach einem Graduiertenstudiumkam er nach Deutschland zurück und erwarb sich als Ostexperte, unteranderem als Mitarbeiter für die Wochenzeitung «Die Zeit» (Hamburg),einen Namen. Von 1966 bis 1987 lehrte er in Yale Geschichte derSowjetunion.
Das Ende des Kommunismus hat Leonhard bereits Ende der 70er Jahrekommen sehen. «Ich habe es kristallklar vorhergesehen», sagt er. «Wirwussten, dass das System nicht so fest ist, wie es schien.» DasPlanungssystem der Wirtschaft funktionierte nicht mehr, es «kochteund siedete» zwischen den Nationalitäten, die Religion blühte auf,und die kulturelle Intelligenz begann sich aufzulehnen. «Uns lagenschon etwa 60 000 oppositionelle Texte vor, mit konkretenVorstellungen wie die Sowjetunion geändert werden sollte.» MichailGorbatschow sei dann der erwartete Reformer gewesen.
Heute noch gebe es «einige wenige Betonköpfe», die nach wie vorglaubten, der gescheiterte Kommunismus sei der richtig Weg gewesen.Ein Großteil aber habe eingesehen, dass das System Fehler hatte, auchwenn sie diese im Nachhinein zu beschönigen versuchten. Eine dritteGruppe sei der Ansicht, der Sozialismus sei richtig, nur diediktatorische Verformung sei falsch. Sein Buch habe 1990, nach demEnde der DDR, viele neue Leser gefunden: «Noch einmal erlebte icheine neue Welle von gewaltigem Interesse - 35 Jahre nach dem erstenErscheinen.» Immer wieder muss er erzählen, wie es damals war:Schließlich ist er der letzte Überlebende der «Gruppe Ulbricht».
Früher hat Leonhard im Eifelstädtchen Manderscheid jeden Tag überSatellit russisches Fernsehen geschaut. Seit zwei Jahren aberverzichtet er darauf. «Ich kann es nicht ertragen, dass die Menschenin Russland wieder in Angst leben müssen», kritisiert er dieautoritäre Politik von Wladimir Putin. «Es ist furchtbar: Wenn ichalte Freunde in Russland treffe, schauen sie sich häufig um. Angstist das Schlimmste, was man haben kann.»