Neue Biografie zu Stefan George
Hamburg/dpa. - Stefan George war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine der markantesten Persönlichkeiten der deutschen Literatur. Über den Lyriker und verehrten «Meister» einer wechselnden Schar von Jüngern und Freunden ist zwar schon viel geschrieben worden, doch erst jetzt die erste umfassende Biografie: «Stefan George. Die Entdeckung des Charisma».
Ihr Verfasser, der noch nicht mit literaturgeschichtlichen Arbeiten hervorgetretene Thomas Karlauf (Berlin), hat sieben Jahre an ihr gearbeitet. Es ist ihm gelungen, eine immer extrem kontrovers beurteilte komplexe, auch irritierende Persönlichkeit verständlicher zu machen. Sein Buch dürfte auch neues Interesse an Georges Werk erwecken, das heute in der großen Öffentlichkeit nicht mehr präsent ist.
Unter den Gründen, dass George schon zu Lebzeiten ein Reizthema war, sind seine Auffassung von der Kunst als «Reich des Geistes» über allem Gesellschaftlichen und sein geistiger Führungsanspruch. Ab 1968 wurde er oft als machtbesessene krankhaft eitle Person präsentiert.
Die meisten bisherigen Berichte über die Biografie gehen auf sie und überhaupt George sachlich ein. In anderen ist er wieder auch ein Reizthema. Dabei geht es vor allem um die Rolle der Homosexualität bei ihm und um ihn. «Der pseudosakrale Zirkel um den Dichter», heißt es da etwa, sei, «ein verruchter, sich geschickt tarnender päderaster und homosexueller Männerbund» gewesen - eine gewagte Interpretation von Karlaufs Darstellung. Die bedeutendsten Persönlichkeiten im sogenannten George-Kreis waren nicht homosexuell. Den in der Biografie gebrauchten Begriff «Päderastie» versteht der Autor auch als Beschreibung nicht sexueller Beziehungen mit Jüngeren.
Da George seine Gefühlsrichtung für keinen «Irrtum der Natur» hielt, ging er mit dem Thema Homosexualität erstaunlich selbstsicher für seine Zeit um. «Das lag vor allem daran, dass er in der Liebe zum Schönen, das für ihn stets nur männlich war, den kreativen Ursprung seines Dichtens erkannte», schreibt Karlauf. George sprach einmal von der «weltschaffenden Kraft der übergeschlechtlichen Liebe». Seine Dichtung, die auch ohne Kenntnis ihrer homosexuellen Hintergründe wirkt, verschlüsselte diese Botschaft.
Leser, die sich auch für andere Aspekte der Persönlichkeit des Dichters interessieren, werden in der Biografie detailreich informiert. Das sollte für sie jeweils Ergänzung zum Werk sein, ohne dessen unmittelbare Kenntnis George nicht verstanden werden kann. Der 1868 geborene, 1933 gestorbene Sohn eines Weinhändlers in dem Dorf Büdesheim bei der rheinischen Kreisstadt Bingen war nicht nur ein vielgereister Mann, der Fremdsprachen kannte, als Erwachsener niemals einen festen Wohnsitz hatte, sondern auch ein immer bodenständig und heimatbewusst gebliebener. Der rheinische Dialekt war ihm das ganze Leben anzuhören.
Teil seiner häufig als magisch empfundenen Wirkung war auch sein Aussehen: Breite Stirn über verschatteten Augenhöhlen, zuletzt ein eigenartig wächserner, manchmal fast olivfarben schimmernder Teint. Oft fiel an ihm ein Blick auf, der dem Gesicht manchmal etwas Sphinxhaft-Dämonisches gab.
Warum «Charisma» im Untertitel der Biografie? Der Soziologe Max Weber (1864-1920) gebrauchte den Begriff erstmals 1910 im Zusammenhang mit George, dem er mehrmals persönlich begegnete. Ausgehend vom Charisma-Begriff entwickelte er dann in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg drei «reine Typen legitimer Herrschaft», darunter die charismatische. Er definierte Charisma hier als eine außeralltägliche, magisch bedingte Qualität, um derentwillen eine Persönlichkeit auf Grund ihrer Bewährung als «Führer» anerkannt wird.
George wuchs mit damals verbreiteten antisemitischen Klischees auf. Trotz seines eigenen latenten Antisemitismus ging er dann mit unproportional vielen Juden um. Von ihnen wurde der Geisteswissenschaftler Friedrich Gundolf die wichtigste Bezugsperson seines Lebens. Der sich nach Hitlers Machtantritt 1933 abzeichnenden Entrechtung der Juden begegnete George, den aktuell Politisches meistens nicht interessierte, mit demonstrativer Gleichgültigkeit. Er begründete sie damit, er habe immer so viele jüdische Freunde gehabt, dass er dazu nichts zu sagen brauche. Für ihn stelle sich die «Judenfrage» nicht.
Dass George-Gefolgschaft jedenfalls später nicht politische Gleichgültigkeit bedeutete, bezeugt beispielhaft Claus von Stauffenberg, für den der Dichter von 1923 an Leitgestalt wurde. Die letzten Worte, die der Wehrmachtoffizier vor seiner Erschießung nach dem misslungenen Attentat am 20 Juli 1944 sprach, sind unterschiedlich verstanden worden. Karlauf entschied sich für «Es lebe des geheime Deutschland». Von dem sprach erstmals 1910 Karl Wolfskehl, einer der George besonders nahestehenden Juden.
Thomas Karlauf
Stefan George. Die Geburt des Charisma
Karl Blessing Verlag, München
816 S., 29,95 Euro
ISBN 978-3-89667-151-6