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Mitgliedschaft in der Waffen-SS Mitgliedschaft in der Waffen-SS: «Wer richten will, mag richten»

16.08.2006, 09:32
«Tagesthemen»-Moderator Ulrich Wickert (l.) und Schriftsteller Günter Grass sitzen im Hotel Liselund Ny Slot im dänischen Borre am Dienstag (15.08.2006) vor der Aufzeichnung eines Gesprächs im Rahmen des ARD-Magazins «Wickerts Bücher». (Foto: dpa)
«Tagesthemen»-Moderator Ulrich Wickert (l.) und Schriftsteller Günter Grass sitzen im Hotel Liselund Ny Slot im dänischen Borre am Dienstag (15.08.2006) vor der Aufzeichnung eines Gesprächs im Rahmen des ARD-Magazins «Wickerts Bücher». (Foto: dpa) dpa

Hamburg/dpa. - Die Gründefür sein Verhalten könne er auch nicht genau nennen, sagte Grass ineinem ARD-Interview mit Moderator Ulrich Wickert für die neue Sendung«Wickerts Bücher», die am Donnerstagabend (22.45 Uhr) ausgestrahltwerden soll. Er sei sich zudem keiner Schuld bewusst gewesen: «Ichbin zur Waffen-SS gezogen worden, war an keinem Verbrechen beteiligt,hatte aber immer das Bedürfnis, eines Tages darüber in einem größerenZusammenhang zu berichten.» Dieser habe sich erst jetzt, beimSchreiben seiner Jugend-Autobiografie, ergeben.

Das Buch «Beim Häuten der Zwiebel» ist seit kurzem im Handel; derSteidl Verlag (Göttingen) zog den ursprünglich für den 1. Septembervorgesehenen Verkaufsbeginn wegen der aktuellen Debatte vor. DieStartauflage liegt nach Verlagsangaben bei 150 000 Exemplaren.

Weiter sagte Grass in dem ARD-Gespräch, er sei der Meinunggewesen, dass seine Arbeit als Schriftsteller und sein Verhalten «alsBürger dieses Landes» das Gegenteil seiner früheren Verblendungwährend der Nazi-Zeit bewiesen hätten. Zudem spiele das Thema Waffen-SS in seinem Buch zwar eine Rolle, «die weit kritischeren Fragen»stelle er sich jedoch «in einem ganz anderen Zusammenhang. Dass ichzum Beispiel in meiner Verblendung als Jungvolk-Hitlerjunge zubestimmten Situationen im engeren Kreis, auch zum Beispiel imFamilienkreis, (...) nicht die richtigen Fragen gestellt habe».

Die am Dienstag veröffentlichten, in der BerlinerWehrmachtsauskunftsstelle lagernden Belege über Grass' Mitgliedschaftin der Waffen-SS sind nach Angaben der Institution seit mehr alseinem Jahrzehnt nicht mehr eingesehen worden - bis jetzt. «Dieeinzige Anfrage, die es gegeben hat, war die einesRentenversicherungsträgers vor 13 Jahren», sagte der stellvertretendeLeiter der Behörde, Peter Gerhardt, am Mittwoch der dpa. Am Dienstagwaren Gerüchte aufgekommen, nach denen Grass mit seinem Bekenntniseiner Veröffentlichung von Forschern habe zuvorkommen wollen.

Diese Behauptung wies Grass in einem Radiointerview mit NDR Kulturam Mittwoch als «abenteuerlich und reine Spekulation» zurück. Er habesich «unter keinerlei Druck durch Veröffentlichung bei Behördengesehen. Der Zwang, den ich ausgeübt habe, der kam von mir. Ich habemich gezwungen, darüber zu schreiben».

Bei der Berliner Stasi-Unterlagenbehörde hieß es am Mittwoch, manhabe auf Antrag eines Politologen 2003 Unterlagen über Grassherausgegeben. Grass sei damals vor der Herausgabe benachrichtigtworden. Zum Inhalt wollte eine Sprecherin der Behörde keine Angabenmachen. Sie sagte, das Ministerium für Staatssicherheit habe keineAkte über Grass angelegt, jedoch habe die Behörde Material über ihngesammelt. Zur aktuellen Debatte habe sie allerdings keine Unterlagenherausgegeben. Bei der Behörde sei nur ein Teil der von der Stasigesammelten NS-Akten verblieben. Papiere ohne unmittelbaren Bezug zurStasi seien ins Koblenzer Bundesarchiv gekommen.

Unterdessen ging die öffentliche Diskussion um Grass auch amMittwoch unvermindert weiter. Der Historiker Hans Mommsen nahm denLiteratur-Nobelpreisträger in Schutz. Er halte die öffentlicheErregung für «unangebracht», schrieb Mommsen (75) in der «FrankfurterRundschau». Der Vorwurf, Grass' Eingeständnis komme viel zu spät, sei«absurd, denn das öffentliche Geheul wäre um keinen Grad geringer undvermutlich um ein Vielfaches stärker gewesen und die Genugtuungdarüber, dass einer bislang als integer geltenden Persönlichkeit derMakel der SS-Mitgliedschaft angeheftet werden konnte, über alleGrenzen gegangen».

Das «Wall Street Journal» warf Grass wegen seiner Vergangenheitbei der Waffen-SS und späteren Amerika-Schelte Doppelmoral vor. Wärendie USA in Europa nicht gegen die Nazis eingeschritten, hätte «seineKarriere bei der Waffen-SS wohl länger als nur ein paar Monategedauert», schrieb die Zeitung am Mittwoch. Mit diesem Kommentarmeldete sich die führende amerikanische Wirtschaftszeitung als einesder ersten US-Medien zum Fall Grass zu Wort.

Laut einem Bericht der «Zeit» (Donnerstag) sieht der polnischeSchriftsteller Wladyslaw Bartoszewski in Grass' Verhalten einen«tiefen moralischen Bruch», der im Falle eines so bedeutendenSchriftstellers unerklärlich sei. Grass sei «ein Moralist der Linken»gewesen, «der alle anprangerte, die irgendwann der Verführung desNazismus erlagen». Viele Grass-Anhänger in der polnischenSchriftsteller-Szene, darunter Stefan Chwin, seien von der Beichtedes Danziger Autors, der für die deutsch-polnische Versöhnung stehe,verwirrt und enttäuscht.