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Maxim Gorki Maxim Gorki: Das Licht der frühen Jahre

Von Christian Eger 28.03.2018, 08:15
Alexej Peschkow, der sich „Gorki“- der Bittere - nannte, 1907
Alexej Peschkow, der sich „Gorki“- der Bittere - nannte, 1907 dpa

Halle (Saale) - Meer und Steppe, Himmel und Wind: Das sind die Zutaten, die Maxim Gorki (1868-1936) als Stimmungsaufheller seinen frühen Erzählungen beimischte. Egal, wie ausweglos eine von ihm geschilderte Lage erschien - auf den Trost der Landschaft war Verlass. Auf die Hitze der Steppe, die die ukrainische Metropole Odessa überwölbt. Auf das Schwarze Meer, dessen Wellen die Füße der Landstreicher waschen. Von Männern wie Jemeljan Piljai, einem gründlich desillusionierten Mann um die 50, und dessen jungem, idealistisch gestimmten Gefährten Maxim. Ausgestoßene, die sich wie junge Katzen am Strand rekeln.

Die Landschaft ist der einzige Verbündete der Menschen, die der vor 150 Jahren im russischen Nishny Nowgorod geborene Schriftsteller in seiner ersten Prosa auftreten ließ, in den von 1893 bis 1926 entstandenen „Meisterzählungen“, die der Aufbau Verlag jetzt als Neuausgabe vorlegt. Übersetzt und somit aufgefrischt von Ganna-Maria Braungardt, mit einem Geleitwort der Autorin Olga Grjasnowa und einem Nachwort der Slawistin Christa Ebert versehen.

Jenseits von Gut und Böse

Insgesamt 17 Erzählungen, veröffentlicht unter dem Titel „Jahrmarkt in Holtwa“. Das ist der Name eines auf einer flachen Anhöhe gelegenen ukrainischen Städtchens, das „sich aus Wiesen herausschiebt wie eine Landzunge auf dem Meer“. Auf der treffen sich Russen und Ukrainer, Juden, Sinti und Roma, um ihren ritualisierten Geschäften nachzugehen: Man betet theatertauglich, wenn man den anderen im Bietergefecht zu übervorteilen sucht, dessen sehr genaue soziale Hackordnung immer klar ist. Hoch oben der Russe, dann der Ukrainer, ganz unten Sinti und Roma.

Es sind keine Erzählungen, die auf eine dramatische Handlung setzen. Wie in einer Galerie zeigt Gorki soziale Typen und menschliche Charaktere, die plötzlich wie Billardkugeln aufeinanderknallen um dann wieder rasant auseinanderzuschießen. Radikale Bindungslosigkeit herrscht, wohin man schaut. Das Spannende baut sich nicht in einem äußeren Handlungsbogen auf, sondern es zeigt sich in einer unverstellten Wahrnehmung der Wirklichkeit. In einer sehr genauen Schilderung der sozialen Tatsachen, was um 1900  nicht allein in Russland überrascht hat. Gorki zeigt eine Welt jenseits von Gut und Böse, in der althergebrachte geistige und sittliche Konventionen wie in Salzlauge verzischt sind.

Das ist ein sehr modernes Setting, das nicht vormundschaftlich nach dem „Positiven“ sucht. Obwohl man hier sagen muss: noch nicht. Denn dass Gorki genau das nach den frühen Jahren seiner Autorschaft - erst als ein kritischer Parteigänger Lenins, dann als ein Stalin ergebener Günstling - getan hat, kostete ihn das artistische Prestige, das ihn dreimal in das Rennen um den Literaturnobelpreis getragen hatte.

Am Ende ergebnislos. Aber nachhaltig. Denn als Erzähler - nicht als Dramatiker! - ist der Autor, der eigentlich Alexej Maximowitsch Peschkow hieß und der sich nach den ersten sozialen Erschütterungen seiner Jugend „Gorki“, der Bittere, nannte, ein toter Mann. Das hat nicht zuerst weltanschauliche Ursachen, denn politisch problematische, aber viel gelesene Autoren gibt es - wie den großen Knut Hamsun - auch im scharf rechten Lager.

Es gibt keine Freiheit

Dass Gorki nach Jahren staatlich finanzierter Abwesenheit in Westeuropa in den 1930er Jahren sowjetische Umerziehungslager und Zwangsarbeitereinsätze lobte, dass er den „Sozialistischen Realismus“ erfand und sich als Literaturgott von Stalins Gnaden feiern ließ, alles das ist nachrangig - gemessen an der künstlerisch-literarischen Lähmung, die mit diesen Einsätzen einherging. Jeder Ostdeutsche machte damit seine Erfahrungen. In der DDR war Gorkis kommunistisches Erbauungsbuch „Die Mutter“ Schullektüre. Ein mattes, ideologisch beflissenen Epos, gegen das die frühen Erzählungen des Bitteren, der noch kein Weltverbesserer war, wie Rock’n’Roll wirken.

Wie sich jetzt zeigt, war dieses Vor- das Hauptspiel des Autors. Gorkis frühe Prosa liefert Bilder, die ein Grauen einfangen, ohne es auszupinseln, die es sachlich einfrieren, ohne es weltanschaulich aufzuwärmen. So schildert er, wie 1901 in einem russischen Städtchen ein Pogrom ausbricht - wie aus einer Sommerlaune heraus. Er zeigt ein elfjähriges Mädchen, das - wenn es nicht seine Puppe pflegt - als Prostituierte dient. Er lässt den obdachlosen Jemeljan erklären, dass der Mensch auch innerlich nicht frei, sondern von Zufällen abhängig sei. Das sind unsentimentale, lakonisch erzählte Szenen, die Bilder des russischen Filmregisseurs Elem Klimow („Agonia“, „Geh und sieh“) vorwegzunehmen scheinen.

Freilich merkt man bereits, wie es Gorki juckt, in die eigene Prosa hineinzureden. Wie er bereitsteht, sie mit seinem redseligen, sentimentalen Idealismus zu steuern. Aber noch überschreibt er nicht. Noch lässt er die Figuren und Dinge sprechen. Wenn Gorki, der gefallene literarische Held der Sowjetunion, heute gerettet sein muss, dann mit dieser rohen reinen Prosa. Das Licht, das Gorkis erzählerisches Werk erhellt, strahlt nicht von dessen Ende, sondern von seinem hier gezeigten Anfang her.

Maxim Gorki: Jahrmarkt in Holtwa. Meistererzählungen, Aufbau, Verlag, 288 Seiten, 24 Euro (mz)