Martin Walser Martin Walser: «Immer schon und immer noch Nietzsche»
NAUMBURG/MZ. - "Kein Mensch wird mich je einladen, über Nietzsche zu sprechen. Ich bin kein Kenner, kein Fachmann..." lässt Martin Walser ("Ein fliehendes Pferd", "Tod eines Kritikers") in seinem Buch "Meßmers Reisen" einen "Nietzsche-Referenten" sprechen. Nun spricht Martin Walser (83) selbst über den Philosophen am Freitagabend in Naumburg im Zuge des Nietzsche-Kongresses aus Anlass der Eröffnung des Nietzsche-Dokumentationszentrums. Mit dem in Überlingen am Bodensee lebenden Schriftsteller sprach unser Redakteur Christian Eger.
Herr Walser, "Lebenslänglich Nietzsche" heißt Ihr Naumburger Vortrag. Das klingt ein wenig wie: Nietzsche als Bestrafung.
Martin Walser: Nein, das ist allein Ihre Interpretation! Das ist doch klar, wenn ich das nehme, drehe ich das um. Dann heißt das: Immer schon und immer noch Nietzsche! Das ist das Gegenteil von Bestrafung. Es ist ein Bekenntnis, dass ich nie ohne ihn ausgekommen bin.
Wann haben Sie begonnen, Nietzsche zu lesen?
Walser: Ich war 14 oder 15, da habe ich in einem Antiquariat in Lindau ein Buch entdeckt, das sich als der dritte Band einer Nietzsche-Ausgabe herausgestellt hat. Und da stand vorne drauf als Titel: "Volks-Nietzsche", eine Volksausgabe von Nietzsche. Und da war "Zarathustra" drin und das war die Entzündung sozusagen fürs Leben.
Was entzündete sich da?
Walser: Sie müssen denken: Ich war bis dahin, was höchste Texte angeht, ganz und gar auf die christliche, katholische Überlieferung beschränkt. Die Psalmen zum Beispiel, das sind natürlich große literarische Texte. Und hier war plötzlich ein Text, der die gleichhohe Frequenz hatte wie die Psalmen. Nur er war direkt ein Befreiungstext, was die Psalmen ja nicht unbedingt sind. Der "Zarathustra" hat in mir eine geistige Bewegungsmöglichkeit ausgelöst, die ich vorher nicht kannte. Ich fühlte mich angesprochen. Ich fühlte mich animiert in jeder Hinsicht.
Befreiung, wohin?
Walser: Das weiß ich nicht mehr, was da war damals. Das kann ich nicht mehr sagen. Ich weiß nur, dass ich ungeheuer lebendig wurde durch Nietzsches Texte.
Worin besteht für Sie die kulturelle Leistung Nietzsches?
Walser: Nein, das kann ich nicht sagen. Das möchte ich überhaupt nicht formulieren für andere. Ich kann das nur für mich sagen, verstehen Sie? Ich habe ja nachher im Laufe meines Lebens entdeckt, dass ich ein Sprachmensch bin. Und damit entdeckte ich, warum mir Nietzsche über alles war: Weil er ein Sprachmensch war. Er ist kein Systemphilosoph, der die Fakultät Philosophie noch zehn Millimeter weiterbringt als sie vorher war. Sondern er ist ein Schriftsteller, der auf alles reagieren kann, und da gibt es überhaupt keine Grenzen des Reagierens. Egal, ob es das Wetter ist oder die Ökonomie oder die Geschichte oder die Philosophie oder die Religion.
Wie reagiert Nietzsche?
Walser: Auf alles ungeheuer genau. Für einen Schriftsteller gibt es nicht das Wort "ehrlich". Ehrlich will jeder sein. Für einen Schriftsteller heißt ehrlich genau sein können. "Der ist genau": Das ist die höchste Qualität, die ich kenne. Und nach allen möglichen anderen Leseerlebnissen, die ich hatte, muss ich dann doch einmal den Superlativ gebrauchen und sagen: Nietzsche ist das größte Leseerlebnis in meinem Leben geblieben.
Welches Werk schätzen sie am meisten - und warum?
Walser: Für mich sind die Werke alle gleich nah. Zuletzt habe ich von ihm alle acht Bände Briefe ganz gelesen. Das ist eine tolle Lektüre. Die kann ich nur empfehlen.
Reisen Sie das erste Mal nach Naumburg?
Walser: Ja. Aber ich bin schon öfter da unten vorbeigefahren.
Kennen Sie andere Nietzsche-Orte in Mitteldeutschland?
Walser: Um 1980 habe ich in Leipzig gelesen und wollte nach Weimar ins Goethe-Archiv. Da hat man mich freundlicherweise mit dem Auto von Leipzig nach Weimar gefahren, und da kommt man an Röcken vorbei. Und da wusste ich, da ist doch der Nietzsche beerdigt. Ich habe gebeten, ob man mich dorthin fahren kann und das hat man gemacht. Und wenn ich mich recht erinnere, fand ich das traurig, wie unordentlich diese Grabstätte da war.
Das hat sich alles geändert.
Walser: Das hoffe ich.
Zum Abschluss: Welcher Nietzsche-Satz ist Ihnen der wichtigste?
Walser: Nein, nein, nein, nein! Das geht nicht, verstehen Sie? Dann werden wir nicht mehr fertig.
Das neuerbaute Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg, Wenzelsgasse 18, wird am Donnerstag 10 Uhr offiziell eröffnet. Bereits am Mittwoch gibt es ab 13 Uhr einen "Nachmittag der offenen Tür". Martin Walser liest im Zuge des Kongresses am Freitag um 20 Uhr.