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Marcel Beyer: "Es geht mir um jedes Wort"

28.06.2016, 12:45
Marcel Beyer erhält den renommierten Georg-Büchner-Preis. Foto: Arno Burgi
Marcel Beyer erhält den renommierten Georg-Büchner-Preis. Foto: Arno Burgi dpa-Zentralbild

Darmstadt/Dresden - Marcel Beyers Oma hat Ende der 60er Jahre ihren kleinen Enkel gerne mit Heintjes Mama-Hit „Du sollst nicht weinen” beglückt.

Erst viele Jahre später fand der Schriftsteller heraus, dass der von ihm so ungeliebte Rühr-Text des niederländischen Kinderstars aus dem Nazi-Kriegsfilm „Mutter” stammt. „Die Unfähigkeit zu trauern verwandelt sich in einen sentimentalen Quatsch”, bringt es der Autor auf den Punkt.

Mit den (un-)geweinten Tränen der Nachkriegszeit und des gesamten 20. Jahrhunderts hat sich Beyer im Februar dieses Jahres in den renommierten Poetikvorlesungen an der Universität Frankfurt beschäftigt. Die Heintje-Anekdote macht dabei deutlich, wie der Schriftsteller der Zeitgeschichte und den sich dahinter verbergenden kleinen Geschichten auf den Grund geht. Wie kaum ein anderer seiner Generation hat der 50-Jährige der deutschsprachigen Literatur damit neue Perspektiven eröffnet. Am Dienstag wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet, der wohl bedeutendsten literarischen Ehrung des Landes.

In seinem Roman „Flughunde” (1995), mit dem Beyer auch international den Durchbruch schaffte, geht es um einen Akustikexperten, der im Nationalsozialismus für die Beschallung der Aufmärsche zuständig ist. Ihm stellt der Autor die achtjährige Tochter von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels gegenüber. Hier ist auch die Sichtweise der Kinder der Täter mitverarbeitet.

Der Ost-West-Roman „Kaltenburg” (2008) umspannt sieben Jahrzehnte deutsche Geschichte. Im Zentrum steht ein in Dresden arbeitender DDR-Ornithologe mit seinem Mentor. Seine Biografie hat Parallelen zu der des Verhaltensforschers Konrad Lorenz.

Mit seinen eher schmalen durchkomponierten Romanen ist Beyer kein epischer Erzähler des 19. Jahrhunderts - aber auch kein Avantgardist. „Er ist ein Meister der Form”, sagt der Frankfurter Germanistikprofessor Heinz Drügh. „Seine Stoffe verdichtet er so, dass man sie gerne liest.”

Umfassende Recherche ist für den Schriftsteller dabei unverzichtbar. Für „Kaltenburg” hat Beyer, wie er berichtet, Fachbücher über Ornithologie gewälzt und mit Fachleuten gesprochen. Er selbst kommt von der Lyrik, die für ihn heute auch noch ein wesentlicher Teil seines Werkes ist.

Bereits mit 14 Jahren hat der im Rheinland aufgewachsene Autor Gedichte geschrieben. Zu seinen Vorbildern gehört die große österreichische Lyrikerin und Autorin Friederike Mayröcker. „Wenn ich an einem Roman arbeite, dann geht es mir genauso um jedes Wort, um den Rhythmus und die Klänge, wie wenn ich ein Gedicht schreibe”, sagt Beyer.

Sozialisiert mit der Popmusik der 1980er Jahre hat Beyer in Siegen studiert. Er beschäftigte sich dort mit Performance- und Videoarbeiten und gab „vergessene Autoren der Moderne” heraus. Zum Einschnitt wurde für ihn der Mauerfall 1989. Bei Besuchen in Berlin und im Osten stellte er nach der Wende nach seinen Worten fest: „Die Spuren der Zeit vor 1945 sind dort viel präsenter.” Für den damals eher geschichtslos groß gewordenen Beyer dann Anlass, tiefer in der deutschen Vergangenheit zu bohren.

Nach seinem Debütroman „Das Menschenfleisch” (1991) siedelte er nach Dresden über - auch das für einen im Westen aufgewachsenen Autor ein eher ungewöhnlicher Schritt. Heute blickt er auf 20 Jahre „Osterfahrung” zurück, wie er sagt.

Zum vielfältigen Schaffen Beyers gehören auch Übersetzungen aus dem Englischen und ins Englische - sowie Libretti für Opern. Derzeit ist eines für die Staatsoper Stuttgart in Arbeit nach Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili”. Auch die aktuellen Poetikvorlesungen - vor Frankfurt war Beyer im Herbst vergangenen Jahres an der Uni Köln engagiert - sollen bald in Buchform vorliegen. (dpa)