1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Magdeburg: Magdeburg: Neue Menschen aus altem Sauerteig

Magdeburg Magdeburg: Neue Menschen aus altem Sauerteig

Von ANDREAS HILLGER 10.11.2009, 18:29

MAGDEBURG/MZ. - Da sitzt Matthias Engel in einer Ecke seiner Zelle und spricht über Matthias Engel, der die Geburt seiner Tochter verpasste, weil er 1984 als politischer Gefangener in einer Zelle eingeschlossen war. Das ist eine Wahrheit - aber eben nicht die einzige, von der dieses kleine, große Stück "Vergissmeinnicht" erzählt.

Am Ende des Lachens

Als Ort der emotionalen Überwältigung hat sich das Magdeburger Theater an der Angel einen Status erspielt, von dem die subventionierten Bühnen des Landes nur träumen können. Doch dass die Villa auf dem Sandwerder auch ein Ort der intellektuellen Herausforderung sein darf, muss sich unter dem Stammpublikum erst noch herumsprechen. Denn wer sich mit seiner Karte zugleich das Recht auf hemmungsloses Amüsement kaufen will, ist diesmal definitiv falsch. Und eben das ist genau richtig!

Schließlich ist hier davon zu reden, wie einer wurde, was er ist: ein Glücksbringer und Vollzeitpoet, ein herzenskluger und spielwütiger Künstler. Dass Engel dies nicht in ein Selbstporträt als junger Dissident verpackt, sondern die eigene Biografie in anderen Lebensläufen spiegelt, hebt sie in allgemeine Gültigkeit - und übersetzt sie in die Sprache des Theaters.

Als Kontrastmittel dient ihm zunächst das Werk des Psychoanalytikers Wilhelm Reich (1897-1957), der die Befreiung des Menschen in seiner Sexualität suchte und die "Massenpsychologie des Faschismus" schon im Jahr 1933 beschrieb. Reich starb in einem US-Gefängnis, nachdem er trotz Verbotes seine "Vegeto-Therapie" praktiziert hatte. Diesem Freigeist verdankt das Stück nicht nur jene "Rede an den kleinen Mann", in der die Unfähigkeit zum Ertragen der Freiheit und die Sehnsucht nach der Diktatur gegeißelt wird - sondern auch den Link zu einer zweiten, weitaus überraschenderen literarischen Quelle.

Denn da sich Reich in seinen frühen Arbeiten auch auf Henrik Ibsens Dramen bezogen hatte, zitiert Engel nun dessen größtes Werk als Spiel im Spiel. Mit groben Golem-Puppen, die aus dem Sauerteig der Knast-Kost geformt scheinen, stellt er Schlüsselszenen aus dem "Peer Gynt" nach - und man mag kaum glauben, wie frappierend sich diese Texte für die Beschreibung eines untergegangenen Landes eignen. Wenn der Trollkönig dem Neubürger Peer das Motto "Sei dir selbst genug" verkündet und ihn mit einer grausamen Augenoperation zur allgemein üblichen Sicht der Dinge befähigen will, ist dies ebenso bestürzend wie das angedrohte Einschmelzen des alten und das Gießen eines neuen Menschen. Tatsächlich kann man diesen nordischen Faust auch als bitteren Kommentar auf den Glauben an die formbare Persönlichkeit lesen - und auf das lebenslange Warten auf ein versprochenes Glück, das sich in der Figur der Solveig zeigt.

Gefangen in der DaDaeR-Skulptur

Dass sich "Vergissmeinnicht" - was für ein bittersüßer Titel! - übrigens in einem Bühnenraum ereignet, der an den "Merz-Bau" von Kurt Schwitters erinnert, ist der dritte kulturhistorische Verweis: Die dreidimensionale Collage aus inkompatiblen Objekten folgte ja dem Prinzip, dass die "Teile nicht mehr zum Sinn zu passen" brauchen, "denn es gibt keinen Sinn mehr". So gesehen war der Heimwerkerstaat, den schon Mensching und Wenzel als "DaDaeR" bezeichneten, eine gigantische Dada-Skulptur - sinnentleert, aber mit Bedeutung aufgeladen.

Und so ist es auch diese Zelle mit klobigen Möbeln und kleinen Luken - und mit jenen Strichen an der Wand, die den Umriss des Insassen und das Verstreichen der Zeit festhalten. Am Ende aber bleibt ein Lied: "Die Gedanken sind frei"...

Nächste Vorstellungen: 12. bis 14. November, jeweils 20 Uhr