Literatur Literatur: «Es gibt kein Russland ohne Fjodor Dostojewski»

Moskau/St. Petersburg/dpa. - «Es erinnert daran, dass Fjodor Michailowitsch gernnachts gearbeitet und sich mit Tee gestärkt hat.»
Die Sechszimmerwohnung in einem lebendigen Handelsviertel vonRusslands nördlicher Metropole strahlt bürgerliche Behaglichkeit aus.Hier ist der russische Schriftsteller nach Gefangenschaft, Krankheit,Spielsucht und Armut gegen Ende seines Lebens zur Ruhe gekommen. Andiesem Schreibtisch entstand sein letzter Roman «Die BrüderKaramasow». Hier an seinem Arbeitsplatz ist Dostojewski vor 125Jahren am 9. Februar 1881 gestorben.
Mehr noch als Lew Tolstoi (1828-1910) hat Dostojewski in der Weltdas Bild der russischen Literatur geprägt. Seine Romane erforschtentiefschürfend alle Regungen der menschlichen Seele bis inExtremsituationen. Er beeinflusste so unterschiedliche Schriftstellerdes 20. Jahrhunderts wie Hermann Hesse, Albert Camus, ErnestHemingway oder Gabriel Garcia Marquez.
Dostojewski war ein tief gläubiger, konservativer Philosoph, einChronist des gesellschaftlichen Verfalls, ein Schriftsteller fürunruhige Zeiten. «Man darf alles von der Weltgeschichte sagen, alles,was der perversesten Fantasie in den Sinn kommen mag, nur einesnicht: dass sie vernünftig sei», schrieb Dostojewski.
Vor 185 Jahren wurde Dostojewski am 11. November 1821 als Sohneines Arztes aus verarmter Adelsfamilie in Moskau geboren. Bereitsals 24-Jähriger errang er mit seinem Erstlingswerk «Arme Leute»Anerkennung als Schriftsteller. Vier Jahre später wurde er wegenseiner Kontakte zu linksgerichteten Zarengegnern zum Tode verurteilt.Er musste eine Scheinhinrichtung über sich ergehen lassen, der Schockließ die schlummernde Epilepsie ausbrechen. Das Urteil wurde in zehnJahre Haft unter Schwerverbrechern in Sibirien abgewandelt.
Auch nach der Rückkehr nach St. Petersburg blieb DostojewskisLeben ein ständiger Kampf gegen seine Krankheit, gegen dieSpielsucht, gegen drückende Schulden. Die Not zwang ihn zu langenReisen ins Ausland. In Deutschland machte er in Berlin, Dresden,Wiesbaden und Baden-Baden Station. Erst in den letzten Lebensjahrenerlaubten seine Bücher ihm ein auskömmliches Leben. Als Höhepunktseiner öffentlichen Anerkennung hielt er ein Jahr vor seinem Tod 1880die Rede zur Einweihung des Puschkin-Denkmals in Moskau.
Dostojwskis Romanfiguren leben bis heute: der Student Raskolnikowaus «Schuld und Sühne» mit einem Mord auf seinem Gewissen, derhilflos naive «Idiot» Fürst Myschkin, der herzensgute KlosternovizeAljoscha als jüngster der Karamasow-Brüder. «Dostojewski konnteSeelenzustände in Krisensituationen beschreiben», sagt dieMuseumsdirektorin Aschimbajewa. Sein Roman «Die Dämonen» über dieAnfänge der terroristischen Bewegung in Russland sei höchst aktuell.«Er schreibt über die inneren Mechanismen in solchen Menschen.»
Die drückenden Lebensumstände Dostojewskis und die Erregung, inder die meisten seiner Figuren handeln, könnten nahelegen, dass auchseine Bücher ähnlich fieberhaft geschrieben wurden. Doch Dostojewskiplante seine Romane sehr genau. Er ließ seine Figuren, jede einzelneTrägerin einer bestimmten Geisteshaltung, in einen Dialog miteinandertreten, in dem der Autor wenig mehr als ein Moderator war. «Polyphon»wie in der Musik nennen Literaturwissenschaftler diese Struktur, inder die Figuren «die Widersprüchlichkeit in sich selbst als auch diewidersprüchliche Wirkung nach außen» bloßlegen (Wolfgang Kasack).
In der atheistischen Sowjetunion war der religiöse Anti-Revolutionär Dostojewski über Jahrzehnte verpönt. Erst 1972 erschieneine Gesamtausgabe. Für Schüler im heutigen Russland gehört «Schuldund Sühne» zum Unterrichtsstoff. «Dostojewski - das ist Russland. Esgibt kein Russland ohne Dostojewski», schrieb der russische AutorAlexej Remisow 1927 im Pariser Exil. Als Dostojewski 1881 starb,gaben ihm 60 000 Menschen das Geleit. Sein Grab liegt auf demFriedhof des Alexander-Newski-Klosters in St. Petersburg.