1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Lew Tolstoi: Lew Tolstoi: Für heute und für alle Tage

Lew Tolstoi Lew Tolstoi: Für heute und für alle Tage

Von CHRISTIAN EGER 19.11.2010, 17:50

Halle (Saale)/MZ. - Im Frühjahr 1872 notiert Tolstoi seinen literarischen Heilsplan in Gestalt einer Sinuskurve. Die nimmt um 1800 mit dem Schriftsteller Karamsin ihren Lauf, erreicht den Gipfel mit Puschkin und Lermontow, senkt sich mit Gogol und stürzt unter der Notiz "Wir Sünder" ab. Der Tiefpunkt ist mit der "Erforschung des Volkes" erreicht, um erst dann wieder hinauf zu klettern. In Richtung "Zukunft", wie Tolstoi formuliert. Der 45-jährige Schriftsteller hätte hier auch seinen Namen einsetzen können.

Denn die geistige Statur des Grafen überragt bis heute die gesamte russische Literatur. Dass sich der Offizier, der als Krimkriegs-Reporter 1852 zum Schreiben kam, dabei selbst zu den "Sündern" rechnet, macht sein Selbstbewusstsein nicht kleiner. Tolstoi ist immer Avantgarde. Literatur, die "das Volk erforschen" will. Kollegen, die diesen Weg hin zu einem sozialpädagogischen Realismus nicht gehen, gelten ihm als gering.

Der Schriftsteller über seinen Kollegen Gontscharow ("Oblomow"): ein "durchschnittliches Talent", das unter einer "unbefriedigten Selbstliebe" leide. Turgenjew? Schildert nur "traurige Menschen, die nicht wissen, was sie vom Leben wollen". Dostojewski: "konnte nie schreiben, weil er immer zu viele Gedanken hatte, er musste zu viel sagen. Und trotzdem ist Dostojewski - wahres Künstlertum". Dieses Urteil darf man getrost auf Lew Tolstoi selbst anwenden. Auch deshalb, weil dieser Künstler als Religionsstifter und Lebensreformer bis heute ein Ärgernis bleibt: Einer der aufregt, in dem er anregt.

Denn der rigorose Allerweltsprediger Tolstoi drängt ja auch gern den Künstler zur Seite, der Weltbestseller schrieb wie "Krieg und Frieden" (1868) und "Anna Karenina" (1877). Bücher, in denen sich der Autor auch belehrend an den Leser wendet. Der große englische Literat Gilbert Keith Chesterton jedenfalls zeigte sich irritiert von dem "kleinen und lärmigen Moralisten, der eine Ecke dieses großen und guten Mannes bewohnt".

Ein guter Mensch, der ein cholerischer Gutmensch war: 1828 auf dem väterlichen Gut Jasnaja Poljana geboren, 200 Kilometer südlich von Moskau. Studium der Rechte und der orientalischen Sprachen. Von 1851 bis 1856 Offizier der Kaukasus-Armee. Danach Reisen, die in die Schweiz, nach Frankreich, Italien und Deutschland führen. 1862 Heirat der Arzttochter Sofia Bers. Dreizehn Kinder und große Bücher wie "Kreutzersonate" (1890) und "Auferstehung" (1899). Stifter einer vor-sozialistischen Privatreligion, die sich in der Weisung zusammenfassen lässt: "Dulden und lieben". Denn der Mensch, der liebt, liebe dabei immer auch die Menschheit, "ob er will oder nicht".

Tolstoi meint von sich, dass "die göttliche Kraft durch mich" spreche. Dabei sei sein Kampf gegen Gesellschaft, Kirche, Staat, Kunst und Sexualität im Wesentlichen immer ein Kampf gegen sich selbst gewesen, meint der in St. Gallen lehrende Slawist Ulrich Schmid. "Als verkleideter Bauer begehrte er gegen den vornehmen Grafen auf, als ,wahrer' Christ verdammte er die etablierte Orthodoxie, als Pazifist zog er gegen den stolzen Offizier zu Felde, als Volksprediger hetzte er gegen den Romanautor, als Keuschheitsapostel verurteilte er den ausschweifenden Jüngling und den dreizehnfachen Vater."

Diese Widersprüche hätten jenes Sinnvakuum erzeugt, das Tolstoi mit seiner literarischen Tätigkeit auszufüllen suchte, schreibt Schmid. Ohnehin sei der Künstler vom Wanderprediger Tolstoi nicht zu trennen. Viel mehr befeuere die eine Eigenschaft die andere - die Genauigkeit der Menschen- und Milieu-Schilderungen, die Fähigkeit, Konflikte anzuschauen. Zwei reizvolle Bücher legt Schmid zum heutigen 100. Todestag des Russen vor: als Taschenbuch in der C. H. Beck-Wissensreihe die ungeheuer faktenreiche und kulturhistorisch spannende, so intelligent wie populär verfasste Biografie "Lew Tolstoi" (125 Seiten, 8,95 Euro) und als deutsche Erstausgabe den kiloschweren Großband "Für alle Tage. Ein Lebensbuch". Ein von Tolstoi angelegtes Lexikon von Zitaten, die er selbst als "den Verstand stärkende und das Herz erfüllende" Erkenntnisse nach Themen sortierte - und über 365 Tage verteilte. Ein Wimmelbuch der goldenen Worte, das man als eine Art Spruchkalender im XXL-Format bedienen kann.

Der Regisseur Volker Schlöndorff ("Die Blechtrommel"), Tolstoi-Verehrer seit Jahrzehnten, erklärt in einem Geleitwort, "warum ich Tolstoi so liebe". Und dieses Bekenntnis liest man tatsächlich gerne. Schlöndorff zitiert Tolstoi-Sätze wie: "Es gibt nichts Unwürdigeres, als in einem Ministerium zu arbeiten". Funktionäre sieht man, keine Menschen. Er sagt, dass Tolstoi in seiner Suchbewegung hin zu einem besseren Leben immer aktuell sein werde. Das sieht die russische orthodoxe Kirche ganz genauso, die den Autor 1901 wegen "antichristlicher Ideen" ausschloss. Dieser Tage teilte der Kultursekretär des Moskauer Patriarchats, Tichon Schewkunow, mit, dass Tolstoi mitverantwortlich sei für die Oktoberrevolution von 1917. Eine Versöhnung sei daher unmöglich.