Leopoldina Leopoldina: Im Labyrinth des Geistes
Halle (Saale)/MZ. - Das Diplom des unter dem Beinamen "Arion IV" in die Deutsche Akademie der Naturforscher gewählten Mitglieds datierte auf den 26. August 1818. Da stand der so Geehrte bereits an der Schwelle zu seinem 70. Lebensjahr, knapp anderthalb Jahrzehnte aber sollte Johann Wolfgang Goethe sich noch an seiner Mitgliedschaft in der Leopoldina erfreuen können. Nun, beinahe 180 Jahre nach dem Tod des Dichterfürsten aus Weimar, haben ihm seine Nachfahren im Geiste ein bleibendes Denkmal errichtet: Mit dem Erscheinen der letzten beiden Zeugnis- und Erläuterungsbände ist die Historisch-Kritische Gesamtausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften abgeschlossen - wahrhaft ein Mammutprojekt, dessen Anfänge bis in die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreichen.
Damals wollten der Physikochemiker Karl Lothar Wolf und die Altphilologie-Studentin Leiva Petersen das wissenschaftliche Gesamtwerk Goethes in einer gut lesbaren Form zugänglich machen. Mitstreiter fanden sie in Mitgliedern der Leopoldina und im Weimarer Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, der Zweite Weltkrieg verzögerte das Erscheinen des ersten Bandes allerdings bis 1947. Zu Beginn der 50er Jahre wurde beschlossen, die Reihe parallel zur Berliner Akademie-Ausgabe der poetischen und zu Ernst Grumachs Edition der amtlichen Schriften von Goethe fortzuführen - als Teil einer neuen Gesamtausgabe.
Umgesetzt wurde dieses Konzept vor allem von der Weimarer Biologin und Germanistin Dorothea Kuhn, die seit 1952 als Bearbeiterin und ab 1964 als Herausgeberin der Naturwissenschaftlichen Schriften wirkte - und die bis heute zum Kreis der Mitarbeiter zählt. Natürlich, sagt sie im Interview, wirke eine solche Edition im Zeitalter von Internet-Datenbanken so konservativ wie ein vielbändiger Brockhaus. Aber das Werk sollte in der Form abgeschlossen werden, in der es begonnen worden war - auch wenn man die Texte damals noch von Hand erfassen musste. Eine Online-Ausgabe der Edition sei zwar diskutiert, vom Verlag aber zunächst als zu teuer verworfen worden. Vielleicht fände man später Gelegenheit für solche Übertragung in die Neuen Medien.
Wer sich aber auf das Prinzip der Herausgeber einlässt - und das nötige Kleingeld für die im Schnitt zwischen 50 und 60, in der Spitze sogar bis zu 180 Euro teuren Bände mitbringt - der kann auch schon jetzt mit großem Gewinn in diesem Kopf-Kosmos "surfen". Jeder Text ist mit Erläuterungen und Ergänzungen verknüpft, die ihn in Goethes eigenem Werk ebenso wie in den Zeugnissen seiner Mit- und Nachwelt verankern. So lässt sich bei jedem der wissenschaftlichen Phänomene und Probleme, die den Denker umtrieben, sowohl die biografische Perspektive als auch die Fürsprache oder Widerrede im Diskurs mit Anderen erkennen.
Der Geheime Rat Goethe erscheint dabei als ein lebenslang Neugieriger, der den zunehmenden Grad der Abstraktion und Spezialisierung in den Wissenschaften beklagt: "Betrachten wir die Naturwissenschaften in ihrer gegenwärtigen Stellung, so werden sie dem Liebhaber immer unzugänglicher." An die Stelle der Meister, "welche sich darin unterhalten", stellt er sein eigenes Konzept der Erkenntnis durch Anschauung, das er in unterschiedlichsten Disziplinen anwendet - in der von ihm geliebten Farbenlehre wie bei der botanischen Suche nach der "Urpflanze", bei der Sammlung und Bestimmung von Mineralien wie bei der Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens.
Dass er dabei immer auch Dichter bleibt, dass wissenschaftliche Fakten im "Faust" oder in seinen Gedichten zu Sinnbildern gesteigert werden, verlinkt die Leopoldina-Ausgabe tatsächlich mit dem poetischen Werk des Weisen aus Weimar. Und zeitgemäß ist seine Sehnsucht nach allumfassender Erkenntnis allemal: "Wie gern", schreibt er, "würde jeder eine Lehre vernehmen, die ihm so große Umsichten ins Ganze und so schöne Einsichten im Einzelnen gäbe."
Der eingangs erwähnte Matrikeleintrag in das Verzeichnis der Leopoldina hat übrigens auch Eingang in die "Zeugnisse und Erläuterungen" gefunden: Auf Seite 866 des zweiten Teilbandes zum ersten von 21 Bänden findet sich das aus dem Lateinischen übersetzte Zitat: "Johann Wilhelm (!) von Goethe, von des Durchlauchtigsten und Erhabensten Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach ehrwürdigeren Räten usw. / Beinamen Arion". So hat sich die Leopoldina auch selbst in dem Monument verewigt, das Goethes Werk neu aufschließt.