Leon de Winter Leon de Winter: «Dann sind wir Feinde»

Halle (Saale)/MZ. - Die EU? Eine fixe Idee von Bürokraten, die dem Norden die Schulden des Südens aufbürden! Barack Obama? Hat nichts geleistet und ruht sich auf seiner Hautfarbe aus! Der Islam? Rückständig! Leon de Winter, Bestsellerautor aus den Niederlanden, sagt, er wolle nicht provozieren, er wolle nur zu bedenken geben, worüber zu sprechen nicht verboten sein dürfe. Er tut dies stets unaufgeregt. Gerade ist er von einem Spaziergang mit seinem Hund wiedergekehrt und völlig entspannt. Da ausgerechnet kommt die Sprache auf jenes Thema, das seine Welt im Innersten auseinanderreißt: Fußball. Niederländischer Fußball. Allein der Gedanke an das heutige EM-Vorrundenduell macht ihn nervös. Doch weil Überraschungen zum Fußball gehören, bringt der Mann, der Ex-Bayern-Trainer Louis van Gaal verehrt, manch unerwartete Wendung ins Spiel.
Das Gespräch führte Mark Obert.
Herr de Winter, beginnen wir offensiv: Die Niederlande sind als ewige Mitfavoriten die größten Verlierer im Weltfußball.
de Winter: Aber so erleben wir uns gar nicht, weil wir Fakten nicht ernst nehmen. Wir erleben uns als Künstler, als Kreative, für uns zählt die Schönheit unserer Spiels, über so etwas Banales wie ein Ergebnis sind unsere Spieler erhaben. Niederlagen sind nur ein Missverständnis, sie berühren unsere Spieler nicht in ihrem Innersten. Es ist übrigens bezeichnend, dass Sie als Deutscher diese Wahrheit aussprechen. In unseren Zeitungen und im Fernsehen habe ich das noch nie gelesen oder gehört.
In den Niederlanden gibt es aber sehr wohl Kritiker dieser Selbstverliebtheit, wie sie vor allem Johan Cruyff kultiviert hat, der Spielmacher der großen 74er-Mannschaft.
de Winter: Die damals im Finale gegen Deutschland wie so viele niederländische Mannschaften nach ihr an ihrer Arroganz gescheitert ist. "Wir sind viel besser, wir haben die perfekte Balance aus Kreativität, Disziplin, Athletik und Eleganz gefunden." So denken niederländische Spieler von jeher - und vergessen dabei leider oft, zu fußballern, um mal eine Wortschöpfung von Louis van Gaal zu benutzen.
Dem Antipode von Cruyff, den Cruyff unlängst als Sportdirektor von Ajax Amsterdam verhindert hat.
de Winter: Genau. Van Gaal will gewinnen, unbedingt. Cruyff hingegen äußerte vor einem Spiel gegen Italien mal einen Satz, der in den Niederlanden als Leitsatz in Bezug auf fast alle Gegner gilt: "Die Italiener können gegen uns nicht gewinnen. Wir können lediglich gegen sie verlieren." Das verdeutlicht den typischen Hochmut.
Woher rührt der?
de Winter: Dieses kleine Volk am Rande des Meeres konnte sich nie an einem großen Territorium festhalten, auch nicht an einer großen Kultur. Während Nationen wie Deutschland ihre Maßstäbe an ihrer Größe ausgerichtet haben und diese Größe mit ungeheurem und leider auch brutalem Behauptungswillen geltend gemacht haben, waren die Niederländer stets angewiesen auf Kreativität, Flexibilität. Sie mussten andere Maßstäbe, andere Werte entwickeln: Liberalität, Individualismus, Freigeistigkeit. Ich bin davon überzeugt, dass die niederländische Volksseele deshalb eine ganz andere ist als die deutsche. Leider gehört zu ihr ein Verlust von Realitätssinn. Niederländer sind selbst dann noch hochmütig und übermütig, wenn dazu nicht mehr der geringste Anlass besteht.
Nehmen Sie Niederlagen auch gelassen hin oder sind Sie untypisch niederländisch?
de Winter: Ich leide immer wieder unerträglich, die Niederlage 1974 gegen Deutschland hat mich in eine schwerwiegende Krise gestürzt. Bis heute empfinde ich Niederlagen als nationale Schmach.
Wahrhaftig oder kokettieren Sie mit den ganz großen Gefühlen?
de Winter: Ich habe diese Gefühle, und im Gegensatz zu vielen, die sich zu diesen Gefühlen nicht mehr bekennen, stehe ich dazu. Es ist für mich immer wieder interessant, so etwas wie Nationalstolz an mir selbst zu erfahren, weil wir dies in unserem vereinten Europa ja mit anderen Mitteln nicht mehr erfahren dürfen. Was ich übrigens falsch finde: Wir sollten uns als Nationen auch immer dessen bewusst sein, was uns trennt, was wir besser als andere können, was schlechter. Aber unsere supranationalen Regierungen haben die Gleichmacherei zum politischen Prinzip erkoren, zur EU-Religion. Also bleibt uns nur der Fußball. Männer haben dieses Urbedürfnis, einer Gruppe anzugehören, die stärker ist als die andere Gruppe. Deshalb reden doch Männer überall in der Welt hauptsächlich und am liebsten über Fußball und damit auch über Nationalgefühle. Wenn die eigenen elf Männer eine andere Nation erniedrigen, wenn das ganze Land verrückt spielt, alles in Orange getaucht ist, ist das wie ein Rausch.
Ich frage mich, wie es Ihnen ergehen wird, wenn die Deutschen gewinnen und Ihre Mannschaft in der Vorrunde rausfliegt.
de Winter: Ich werde erleichtert sein!
Da schlägt der niederländische Zweckfatalismus auch bei Ihnen durch?
de Winter: Im Gegenteil. So lange meine Mannschaft im Turnier ist, quält mich diese Angst vor der Niederlage, ich werde verrückt davon. Weil ich meine Urinstinkte spüre, weil ich mich mit der Gruppe identifiziere, weil ich Stolz und Schmach intensiv empfinde, ist eine Niederlage für mich auch eine Befreiung von diesem Terror. Dieses Spannungsverhältnis ist reiner Horror. Wenn wir rausfliegen, werde ich die EM erst genießen können.
Was bleibt von der niederländischen Selbstgewissheit, wenn die Deutschen nicht nur gewinnen, sondern auch viel schöner spielen?
de Winter: Sie meinen, wie beim Freundschaftsspiel im November?
Ja, Deutschland siegte 3:0 und spielte so, wie Holland in seinen besten Zeiten.
de Winter: Das war ein unglaubliches Ereignis für uns. Plötzlich können die Deutschen kreativ sein, schön spielen. Gepaart mit ihrer bewährten Durchschlagskraft, ihrem Siegeswillen! Aber unser Trainer Bert van Marwijk ist ein sehr sachlicher, praktischer Typ, gar kein Schöngeist wie Joachim Löw. Van Marwijk zieht die richtigen Lehren aus solchen Erlebnissen. Wir befinden uns zwar nach all den Niederlagen noch immer in einer Krise, aber inzwischen stelle ich fest, dass vielen Niederländern diese reine Fußballkunst mehr und mehr auf die Nerven geht. Um so mehr jetzt, da die Deutschen sie auch beherrschen! Schon unser Finale gegen Spanien bei der WM in Südafrika zeigte, dass sich was ändert: Unsere Mannschaft war extrem aggressiv. Ein bisschen fehlte noch die Disziplin der Deutschen. Noch sind wir ein bisschen zu locker, zu liberal, zu individualistisch.
Vor allem auch am Egoismus ihrer Stars sind viele niederländische Fußball-Generationen gescheitert. Stimmt diese These?
de Winter: Ja! Robben ist das aktuelle Beispiel dafür. Haben Sie im Champions League-Finale der Bayern gegen Chelsea eine gefährliche Szene von ihm gesehen, einen guten Pass? Wie viele Male hat er weit am Tor vorbei geschossen?
Ohne Robben hätten die Bayern gewonnen?
de Winter: Davon bin ich überzeugt.
Wie erklären Sie sich diesen Egoismus?
de Winter: Schon in unseren Grundschulen wird der Individualismus stark gefördert, das Kollektiv ist nicht so wichtig. Die Tugend, sich als herausragendes Talent in den Dienst eines Kollektivs zu stellen, ist schon gar nicht populär. Niederländer opfern sich nicht gern, auch wenn es, wie im Fußball, den Sieg kostet. Das macht andererseits das Leben hier auch sehr angenehm, dieses Freie. Die Deutschen sind unfreier. Im Fußball zahlt sich das aus.
Jetzt muss ich mal Einspruch erheben: Wir sind nämlich drauf und dran, auch ein großer Verlierer des Weltfußballs zu werden.
de Winter: Wieso?
Neulich sagte mir ein 20-jähriger Deutscher, er habe genug davon, die wichtigen Spiele immer zu verlieren. Er wolle endlich auch mal einen Titel bejubeln können. Er hat Recht: Wir haben seit dem EM-Gewinn 1996 zwei Halbfinals und zwei Finals vergeigt.
de Winter: Da haben wir wieder das Phänomen von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Fußball ist, wenn 22 Mann spielen und am Ende gewinnen immer die Deutschen: Dieser berühmte Satz hat in den Niederlanden noch absolute Gültigkeit.
Während Bundestrainer Löw längst missfällt, dass die deutschen Massen neuerdings dritte WM-Plätze und Vize-Europameisterschaften feiern. Und obendrein waren wir Deutschen beeindruckt und gleichermaßen entsetzt von den Niederländern, weil sie die Spanier im WM-Finale mit bedingungsloser Härte fast niedergerungen haben. Würden Sie für einen Titel in Kauf nehmen, dass die Fußballwelt vom hässlichen Niederländer redet wie einst vom hässlichen Deutschen?
de Winter: Mir wären zwar nicht alle Mittel recht, um Weltmeister zu werden, aber es hat mir schon gefallen, wie entschlossen unsere Mannschaft war. Endlich spürte ich die Bereitschaft zu töten.
Wie bitte?
de Winter: Wann transzendiert das Spiel ins Blut? Darum geht es doch, wenn 22 Männer im Zenit ihrer Kraft aufeinanderstoßen. Wo beginnt der Moment, wo dieser Urtrieb zur Vernichtung wach wird? Wo erfahren wir die Grenzen unserer zivilisierten Existenz? In diesen Momenten sind wir wieder im römischen Kolosseum. Und das fühlte ich 2010 im Finale. Diesen Wunsch der Rache auch, den ein spielerisch überlegener Gegner wie Spanien weckt, für diesen Wunsch haben damals viele Niederländer Verständnis gehabt. Wir müssen diese atavistischen Gefühle im Fußball zulassen, wir brauchen diese transformierte Brutalität, sonst verliert der Fußball seine Größe und wird uninteressant.
Fußball ist Krieg! Diesen legendären Satz hat Hollands einstiger Nationaltrainer Rinus Michels geprägt.
de Winter: Ich stimme diesem Satz zu. Er stammt aus den frühen 70er Jahren, als Feyenoord Rotterdam und Ajax Amsterdam mit wahrlich furchteinflößenden Spielern insgesamt viermal den Europapokal der Landesmeister gewinnen konnten.
In Deutschland diskutieren wir zurzeit darüber, was zu tun ist, damit Fans nicht außer Kontrolle geraten. Gemessen an dem barbarischen Potenzial, welches der Fußball Ihrer Meinung nach in uns weckt, geschieht in unseren Stadien aber wenig Dramatisches. Ist das nicht paradox?
de Winter: Nein, wir reden von Ritualisierung, wir müssen es ja zum Glück dank des Fußballs nicht wirklich ausleben. Zu diesem Ritual gehört die Organisation, und die ist in den europäischen Stadien annähernd perfekt. Dass immer mal wieder eine absolute Minderheit außer Kontrolle gerät, wie sollte man das verhindern?
Warum kommt es in den Niederlanden seit jeher zu Krawallen zwischen Fans von Feyenoord Rotterdam und Ajax Amsterdam?
de Winter: Beim Fußball kommt der größte Feind aus dem Nachbardorf. So war das schon in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Und deshalb wird die Rivalität zwischen uns und den Deutschen immer eine besondere bleiben. Wenn wir gegeneinander spielen, sind wir Feinde. Aber zwei, drei Tage nach dem Spiel beruhigen wir uns alle doch immer wieder.
Ihr Fußballbild passt so gar nicht in unsere Zeit, da Funktionäre Fußball als spaßigen Familienevent vermarkten und Mädchen Spieler wie Popstars anhimmeln.
de Winter: Der Fußball darf nicht verweiblicht werden, ich meine das nicht negativ gegen das Weibliche. Aber auf welchem Feld dürfen sich Jungen und junge Männer heute noch auf die Weise behaupten, die ihnen von Natur aus gegeben ist? Wir kultivieren seit drei Jahrzehnten ein sehr dürftiges Männerbild und machen um das Weibliche einen regelrechten Kult: Männer müssen sanft sein, Männer müssen sich öffnen und so weiter
. . . Als Ergebnis dieser Erziehung sind viele Jungen antriebsschwach, durchsetzungsschwach, wankelmütig, überfordert. Als mein Sohn und meine Tochter in den USA ihren Schulabschluss gemacht haben, waren von den 25 Besten des Jahrgangs 24 Mädchen. Und das war der Normalfall. Warum? Weil sich auch diese Schule wie die allermeisten Schulen im Westen an den Mädchen orientierte und sich die Jungen dumm und missverstanden fühlten. Deshalb haben Mädchen Erfolg und Jungen ADHS. Jungen müssen Jungen sein dürfen, sich messen dürfen, Konflikte und Hackordnungen auch mal handgreiflich klären. Ich bin ein großer Befürworter des getrennten Unterrichts, mindestens bis zum 17. Lebensjahr.
Also kommt es nicht von ungefähr, dass die Fußballmeister unserer Zeit aus Spanien, Frankreich, Italien und Griechenland stammen, wo Männer noch Männer sein dürfen.
de Winter: Das ist eine kluge Beobachtung. Mediterrane Traditionen haben einiges für sich.
Abschließend die beiden Fragen aller Fragen: Wer gewinnt heute?
de Winter: Deutschland - und ich bin befreit.
Wer wird Europameister?
de Winter: Deutschland - im Finale gegen Spanien.