Kybernetik in der DDR Kybernetik in der DDR: Ein Zauberschwert aus Luft
Halle/Berlin/MZ. - Es war dann der sowjetische Elektroniker und Admiral Aksel Berg, der seiner Parteiführung per Geheimbericht zu verstehen gab, dass die Führung einer Armee ohne die als "Seuche" definierte Kybernetik nicht möglich ist. Ruckartig änderte sich die Einstellung der sozialistischen Staaten zu der Lehre, die der US-Mathematiker Norbert Wiener im 2. Weltkrieg begründet hatte. Jetzt lobte Nikita Chrutschow die Kybernetik, jetzt forderte DDR-Staatschef Walter Ulbricht sie "allumfassend anzuwenden."
"Es ging mit einem Mal um einen großen Sprung zur Hochtechnologie", beschreibt Karlheinz Steinmüller, zu DDR-Zeiten selbst am Zentralinstitut für Kybernetik und heute Zukunftsforscher mit eigenem Institut. Ulbricht hatte schon seit Anfang der 60er versucht, den Rückstand zum Westen durch das Neues Ökonomisches System zu verringern. Die zentrale Planung sollte beibehalten, den Betrieben aber mehr Freiraum bei der Umsetzung der Ziele gegeben werden.
Ein Fall für die Kybernetik, die sich vordergründig mit Kommunikation und Steuerung in maschinellen oder elektronischen Systemen beschäftigt, deren Erkenntnisse aber übertragbar sind auf andere Strukturen. "Auf einmal ging es darum, die wissenschaftlich-technische Revolution zu meistern", erinnert sich Steinmüller, "das war für viele schon wie eine Befreiung."
Noch ehe in Prag die Panzer rollten, lag die DDR unter technologischer Frühlingssonne. Der Dresdner Philosoph Georg Klaus hatte die bürgerliche Pseudowissenschaft inzwischen in die marxistische Weltsicht eingemeindet, selbst die Partei war nun ein selbstlernendes System. Wissenschaft aber war Waffe im Klassenkampf: Der wahre Sozialismus konnte nur entstehen mit Hilfe von immer mehr Forschung, die ideologisch auf Linie sein musste, deren Ergebnisse aber durchaus pragmatisch angewendet werden durften. "Die Studentenzahlen", beschreibt Karlheinz Steinmüller, "gingen Ende der 60er Jahre unheimlich nach oben." Gerade in die naturwissenschaftlichen Fächer wurden Tausende gelockt. Ziel war es, so Steinmüller, vor allem in die Herstellung von Produktionsmitteln zu investieren, um die Wirtschaftskraft des Staates nachhaltig zu erhöhen.
Die Arbeiter und Bauern in der Arbeiter- und Bauernrepublik zahlten dafür allerdings mit einem schlechteren Angebot an Konsumgütern. Und als die ersten Studenten der dickbesetzten Jahrgänge abgingen, stellte sich heraus, dass so viele Akademiker gar nicht gebraucht wurden. "Beinahe über Nacht wurde das Ruder herumgerissen", schildert Steinmüller. Schuld war nun natürlich nicht die Partei, sondern die Kybernetik. "Mit dem Wechsel zu Honecker war die Kybernetik-Mode vorüber."
Und mit ihr auch der letzte Versuch der DDR, sich durch Konzentration aller Energien als dynamische Wirtschaftsnation neu zu erfinden. "Vorher war der Flugzeugbau, die Konzentration auf die Großchemie, danach kam nur noch der Ein-Megabit-Chip", glaubt Karlheinz Steinmüller. Kybernetik wurde weiter geduldet, doch von Selbstorganisation war nicht mehr die Rede. Die Wissenschaft, die Werkzeug beim Aufbau des Kommunismus hätte sein sollen, galt nun als Zauberschwert aus Luft, mit dem ein paar Denker herumfuchteln, Politiker aber nichts ausrichten können.
Unter Erich Honecker lautete das Ziel aller Bemühungen, das Leben der Menschen sofort besser zu machen, um sie bei der sozialistischen Stange halten zu können. "Jetzt wurde wieder konsumiert, nicht mehr investiert", analysiert Steinmüller die Zwickmühle, aus der die DDR-Führung mit und ohne Kybernetik keinen Ausweg finden konnte. Wer die Menschen immerzu nur auf morgen vertröstet, dem laufen sie davon. Wer ihnen heute gibt, was er nicht geben dürfte, der lässt sie die wirtschaftliche Basis von morgen verzehren.