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Kunst Kunst: Mit sehenden Händen

Von CAROLINE VONGRIES 15.07.2011, 21:21

Halle (Saale)/MZ. - Der Mann mit dem weißen Haarkranz, der die Haustür im Hochparterre eines Altbaus in der Schönebecker Schillerstraße öffnet, bewegt sich so sicher und selbstbewusst, dass man kaum auf die Idee käme, er könnte blind sein - wüsste man es nicht und wäre da nicht die dunkle Brille. Nur, dass er zur Begrüßung die Hand des Gegenübers etwas länger als üblich in der seinen hält. "Wie der Mensch, so seine Hand", schreibt er in einem seiner Gedichte. "Hände können vieles sagen, wozu oft das Wort uns fehlt."

Der 85-jährige Bildhauer hat mit seinen Händen zahllose Skulpturen und Plastiken geschaffen, manches davon steht in Regalen und Vitrinen seiner Vier-Zimmer-Wohnung. Größere Arbeiten sind in Leipzig, Wien, Petersburg, Washington, Paris, Athen zu sehen, zum Beispiel in der US-amerikanischen Kongressbibliothek. Den deutschen Hörfilmpreis versinnbildlicht ein Bronzerelief Malkowskis: "Die Lauschende", ein Frauengesicht - eine Hand hinterm Ohr, die das Hinhören verstärkt, die andere bedeckt die Augen, um nach innen zu schauen. Eine Skulptur wie ein Programm. Immer hat er Hände ausdrucksstark geformt: "Lesende Hände durch Louis Braille" (dem Erfinder der Blindenschrift) zum Beispiel, eine frühe Bronze aus dem Jahr 1952. Oder "Geborgenheit" von 1980, zwei Hände, die in ihrer Höhlung einen Vogel zärtlich umfangen.

Mehr als 150 Plastiken, Skulpturen, Keramiken hat Dario Malkowski seit seinem 21. Lebensjahr geschaffen, manches als Miniatur, anderes überlebensgroß. Es gäbe mindestens zwei Wunder in seinem Leben, sagt Malkowski: Dass er den Krieg überhaupt überlebt habe und, dass er als Blinder die Kraft hatte, Bildhauer zu werden. Noch ein drittes muss erwähnt werden: die Begegnung mit seiner Ehefrau Regina und die tiefe Verbindung, die seit 36 Jahren allen Stürmen standhält. Die diplomierte Lebensmittelchemikerin leiht dem Blinden dort, wo es notwendig ist, ihre Augen und glasiert für ihn seine Objekte.

Der Krieg macht dem passionierten Segelflieger einen Strich durch sämtliche Zukunftspläne. Er wird eingezogen. Der 19. November 1944 wird für ihn zur Katastrophe. Es ist noch früh am Morgen, als ihn bei Jülich eine Granate erwischt, ganz nah. "Gerade so, als hätte mich jemand mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen." Das Morgenlicht ist das letzte Bild, das sich ihm einprägt. Dann ist es dunkel. Die Explosion hat ihm das halbe Gesicht weggerissen. Schmerzen. Die Erkenntnis, dass das Augenlicht verloren ist. Verzweiflung. Um ihn herum tobt der Kampf. Viele Stunden, bis zum Abend, liegt er an diesem Schicksalstag im Granatentrichter. "Ich hatte abgeschlossen mit dem Leben", sagt er. Ein Gedanke taucht auf: Die Mutter - wenn er jetzt hier in diesem Loch stirbt, wird er verscharrt, ohne dass die Mutter je erfährt, wie ihr Sohn gestorben ist. Ein dünner Faden, der ihn am Leben hält.

Nach dem Krieg kann er nicht auf Irgendwas warten und nichts tun. Er hat ja noch seine Hände. Und die Bilder vor seinem inneren Auge. Er beginnt zu schnitzen. Heimlich. Schnitzt eine Wasserträgerin, einen Herrgottswinkel. Den bekommt der aus Prag geflohene Bildhauer Emil Schwandtner zu Gesicht. Ihm hat es vor allem die aufgehende Blüte angetan, auf die Malkowski die Kreuzigungsszene gegründet hat. "Wenn Sie das ohne jede Anleitung können, dann sind Sie zu mehr in der Lage."

Die Unterstützung des versierten Bildhauers gibt Malkowski Auftrieb, macht ihm Mut, sich gegen die staatlich verordnete Umschulung zu wehren: Bürstenmacher soll er werden, Masseur oder irgendetwas Praktisches. Mit der ihm eigenen Widerstandskraft, weiterer Fürsprecher und einer Portion Glück wird Malkowski überraschend zur Prüfung zum Holzschnitzer zugelassen. Er besteht, ohne sich vorbereitet zu haben. Bei einer Ausstellung in Schönebeck fallen seine Objekte den Verantwortlichen im Bezirk Magdeburg ins Auge. "Förderfähig" lautet die mit einem Stipendium verbundene Einschätzung, die man versucht zu revidieren, als deutlich wird, wer der Urheber der ausgezeichneten Werke ist: "Aber Sie sind doch blind." Diesen Satz wird Malkowski noch oft zu hören bekommen. Er muss sein Können stets doppelt und dreifach beweisen, wird nochmals geprüft.

Als er sein Studium an der Fachschule für angewandte Kunst in Magdeburg antreten will, schickt man ihn gleich wieder nach Hause. Am dritten Tag steht Malkowski erneut auf der Matte, besteht darauf, zu zeigen, was er kann. Beim Wechsel nach Leipzig wiederholt sich die Prozedur. Und doch kristallisiert sich bereits hier seine zweite große Begabung heraus: Malkowski ist ein passionierter Pädagoge. Der Blinde bringt den Kommilitonen komplizierte Techniken bei, nach bestandenem Examen leitet er in Schönebeck Zirkel: Kinder, Erwachsene, viele Zirkelleiter und spätere Keramikkünstler gehen durch seine Hände.

Bevor es Dario Malkowski in der DDR gelingt, Anerkennung von höchster Ebene zu erringen, sind harte und karge Anfangsjahre durchzustehen. Die Kirche entdeckt die Begabung des blinden Bildhauers, dessen Werte und Werke in einem christlich geprägten Humanismus wurzeln, und verschafft ihm Aufträge.

Den Krieg - im Rahmen einer Plastik für den Frieden - "doch ein wenig freundlicher" zu gestalten, lehnt er grundweg ab. Auch will er Christus nicht, wie üblich, ausschließlich als Gekreuzigten darstellen, sondern sucht nach Bildern für den Auferstandenen. Manch Pfarrer lässt sich von Malkowskis Auffassung bewegen, so schafft er für mehrere Kirchen Kreuze, an denen Jesus über den Nägeln schwebt.

Nach 1989 hat er "Die Kerzenträger" verewigt, stille Gestalten, deren Hände das Licht direkt vorm Herzen tragen. Das "Kartenhaus" zeigt zwei Spieler an einem Tisch, "einer macht dem anderen alles kaputt", kommentiert Malkowski das Nachwendegeschehen. Für den "Verlierer" aus dem Jahr 1993 gibt es keine Hoffnung.

Für einen Skandal sorgt sein "Alptraum", eine Assoziation an den Tod "als Meister aus Deutschland" im Zusammenhang mit aufkommender rechter Gewalt nach dem Mauerfall. Bei einer Ausstellung in Dortmund zerschlägt ein dortiges Stadtratsmitglied die 70 Zentimeter hohe Figurengruppe aus Keramik. Ein Verlust, der den Künstler heute noch schmerzt.

Zärtlich nimmt er ein Stück Lindenholz zur Hand. Rosen nehmen darin Gestalt an. "Das ist jetzt schon die dritte Skulptur, von der ich denke, das könnte deine letzte sein." Dann holt er eine Plastik vom Regal, die ihm in der Seele brennt: Dädalus. Ärgerlich, "dass alle Welt immer nur den Sohn, Ikarus, kennt", meint Malkowski. "Ikarus war ein dummer Junge." Für Dario Malkowski ist der Vater, Dädalus, das perfekte Sinnbild des Künstlers überhaupt. Ein genialer Baumeister, der niemals aufgibt, auch nicht, als er eingesperrt wird. Er konstruiert die Flügel, mit denen er und sein Sohn Ikarus fliehen können.

Jetzt steht der blinde Bildhauer seiner Skulptur gegenüber, umfasst sachte die Beine, die Flügel, den Kopf. Ja, von seinem eigenen Traum vom Fliegen hat Dario Malkowski nie abgelassen.