Keimzeit Keimzeit: Ostdeutsche Kultband als kosmische Reiter

Halle (Saale) - Da waren es nur noch zwei, die übrig sind. 35 Jahre nach Gründung der Gruppe Keimzeit, die sich anfangs noch „Jogger“ nannte, stehen mit Hartmut und Norbert Leisegang nur noch zwei Gründungsmitglieder in der Kultkapelle, die ihren Fans vor allem in den ersten Jahren immer mehr wie ein Familienunternehmen als wie eine Rockband vorkam. Mit Marion, Roland, Hartmut und Norbert spielten hier in der Tat vier Geschwister. Auch die später dazugestoßenen Ulle Sende und Ralf Benschu kamen nicht, um gleich wieder zu gehen, sondern sie blieben über Jahrzehnte.
Dass für „Auf einem Esel ins All“, das insgesamt elfte Studioalbum der Brandenburger, nun dennoch eine fast runderneuerte Band ins Studio ging, liegt an einer gewissen Unruhe, die sich bei dem ewig als quasi buddhistisch in sich ruhenden Sextett Ende der 90er Jahre ausbreitete. Was bis dahin folkig und akustisch daherkam, verwandelte sich auf dem Album „Im elektromagnetischen Feld“ in experimentelles Elektro-Geplucker: Keimzeit erfanden sich neu, zum Erschrecken eines Teils ihrer alten Fans, der lieber immer weiter „Kling Klang“ und „Mama, sag mir warum“ gehört hätte.
Neue Ufer
Norbert Leisegang, Chef unter Brüdern und Mitmusikanten, wollte aber hinaus zu neuen Ufern. Er verpflichtete namhafte Produzenten, möbelte seine zuweilen des Muckertums gescholtene Band technisch auf und schrieb Texte zwischen purer Philosophie und Unverständlichkeit. Die Säle wurden kleiner, die Zufriedenheit einiger Mitmusiker auch. Gitarrist Rudi Feuerbach ging, ein Trompeter kam, es wurde mit Symphonieorchester musiziert und als akustisches Quartett. Da klang das Ganze dann wieder wie ganz früher.
Fast so ist es auch auf dem Esel-Album, das zwölf neue Stücke bietet, die wieder mehr an „Bunte Scherben“ von 1992 erinnern als an neuere Werke wie „Privates Kino“ oder „Kolumbus“.
Die neue Besetzung - für Schlagzeuger-Bruder Roland ist der Erfurter Lin Dittmann eingestiegen - beginnt zwar mit ein paar elektronischen Verzierungen. Schon nach vier, fünf Sekunden aber ist das typische Keimzeit-Gefühl da: Die Band spielt flott vor, der Sänger schleppt sich gelassen hinterher, komischerweise aber passt das immer noch zusammen.
„Guten Morgen Deutschland“
Nein, das hier ist nicht die verschlurfte Mischung aus Folk, Blues und Indierock, mit der die Kleinstädter vor einem Vierteljahrhundert zeitweise zur erfolgreichsten Band der untergehenden DDR avancierten. Andererseits sind auch die zuletzt noch hörbaren Ansätze von Elektro-Mugge im Sound verschwunden. An ihrer Stelle spielen mehr Gitarren wie in „Zoten“ und „Guten Morgen Deutschland“, das ein bisschen wie Udo Lindenberg klingt. Dazu Trommeln wie in „Warum nicht“ und eine verlorene Orgel wie bei „Ins Land“. Ein Album wie eine Rückkehr an die Gestade von „Kapitel Elf“ und „Primeln und Elefanten“, als die Keimzeit-Kommune die Grateful Dead der verlorenen DDR spielten.
Eine Rolle, die sie mit Erfolg abgelegt haben. Norbert Leisegang, von einem Stück abgesehen Autor oder zumindest Mitautor aller Songs, singt trotzdem wie immer mit unverwechselbarer Stimme. Und wie stets geben seine Texte Rätsel auf: Deutschland ist hier wildes Tier und grundanständiger Hund zugleich, die Zeit wird zu einer Geliebten, die den Sänger still begleitet, und „Wolkengassen werden zum Verzehr freigegeben“.
Zuhörmusik, wenngleich zuweilen etwas zappelig, Rock, der sich nicht in leeren Gesten erschöpft, sondern in der guten alten DDR-Tradition zum Nachdenken anregt.