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Interview mit Richard David Precht Interview mit Richard David Precht: "Die Hauptschulen abschaffen"

30.04.2013, 07:00
Vom Sofa aus sieht man bisweilen weiter als die Arbeiter an der Praxisfront, meint Richard David Precht.
Vom Sofa aus sieht man bisweilen weiter als die Arbeiter an der Praxisfront, meint Richard David Precht. dpa Lizenz

köln/MZ - Richard David Precht, 48, ist Philosoph und Autor erfolgreicher populärwissenschaftlicher Bücher („Wer bin ich - und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise“, „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“). Dieser Tage ist sein neues Buch erschienen: „Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern“ (Goldmann, 19,99 Euro), eine Abrechnung mit dem deutschen Schulsystem. Mit Richard David Precht sprach Kerstin Meier.

Herr Precht, an Büchern zum Thema Schule herrscht kein Mangel. Warum haben Sie eins geschrieben?

Precht: Tatsächlich gibt es sehr viele Bücher über das Schul- und das Bildungssystem. Aber normalerweise finden in Deutschland zwei Debatten weitgehend getrennt statt. Nämlich erstens: Wie machen wir die Schule sozial gerecht und sorgen dafür, dass es nicht so viele Schulabbrecher gibt und so viele Kinder, die durch die Maschen fallen? Und zweitens: Wie geht gehirngerechtes Lernen? Ich habe versucht, diese beiden Diskussionen für Deutschland und die hier bestehenden Probleme miteinander zu verzahnen und Vorschläge zu entwickeln, die beides verknüpfen.

Auf das Schulsystem zu schimpfen ist ein beliebter Sport. Und individuelle Förderung fordert doch heute fast jeder. Rennen Sie mit Ihrem Buch nicht offene Türen ein?

Precht: Ich glaube, es gibt sogar manchen Kultusminister, der das, was ich über guten Unterricht, über Lernen und über Lehrerausbildung sage, im Grunde genommen ähnlich sieht.

Was antworten Sie denn einem Kultusminister, der wiedergewählt werden möchte? Wenn er wie Sie antritt, die Gymnasien abzuschaffen, ist das sehr unwahrscheinlich.

Precht: Ich will ja auch nicht als Erstes die Gymnasien abschaffen. Das ist auch eine Frage der Reihenfolge. Ich will als Erstes die Hauptschulen abschaffen. Dieser Prozess ist ja im Gang und wird in einigen Jahren zu Ende geführt sein. Dann werden wir nur noch Gesamtschulen haben und Gymnasien. Und der andere Prozess, diese beiden Formen miteinander zu verschmelzen, das ist dann die Aufgabe von übermorgen.

Da sitzt jemand bequem auf seinem Sofa und malt sich das Schulparadies aus - was sagen Sie zu solchen Vorwürfen von Schulpraktikern?

Precht: Ich würde versuchen, ihnen zu erklären, was die Funktion dieser sogenannten Sofakritik ist und warum die Perspektive, als quasi Unbeteiligter von außen auf etwas zu gucken, sehr wichtig für diese Gesellschaft ist. Es gibt einen Unterschied zwischen einer Innenperspektive und einer Sofakritik. Meine Kritik versucht einen ganzheitlichen Blick auf das Schulsystem zu werfen, frei von den Befangenheiten und Rücksichtnahmen eines politischen, wissenschaftlichen oder administrativen Amtes. Diejenigen mit der Innenperspektive sind in allererster Linie mit ihren praktischen alltäglichen Durchsetzbarkeiten, Scharmützeln, Hickhack und so weiter beschäftigt.

Sie fordern eine leidenschaftliche Diskussion. Aber wird nicht über das Thema Schule ohnehin mit großer Leidenschaft gestritten? Und hat das nicht eher dazu geführt, dass sich die Fronten verhärtet haben?

Precht: Das sehe ich ganz anders. Gucken Sie sich mal in den 60er und 70er Jahren diesen gewaltigen gesellschaftlichen Fortschritt an, den es nur durch diese Aufregungskultur gab. Ohne Aufregung geht es nicht. Ohne Aufregung gibt es keine gesellschaftliche Debatte und ohne gesellschaftliche Debatte verändert sich nichts. Nehmen Sie das Beispiel Emanzipation der Frau. Alice Schwarzer war Anfang der 1970er Jahre wahrscheinlich die meistgehasste Person in Deutschland. Wenn da jemand stattdessen ein sehr ruhiges und überlegtes Buch geschrieben hätte - das wäre in der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen worden. Die ganze libertäre Kultur der Gegenwart ist aus aufgeregten Debatten entstanden. Nicht aus ruhigen Überlegungen, Schritt für Schritt. Es gibt die Leute, die das dann Schritt für Schritt umsetzen müssen. Leute wie die Kultusminister und die Schulleiter und Lehrer. Und es gibt Leute, die Druck unter dem Kessel machen und den Sinn für das Mögliche schärfen. Das ist meine Rolle.

In Ihrem Buch plädieren Sie für eine Bildungsrevolution - und zwar entweder ganz oder gar nicht.

Precht: Das sage ich nicht. Ich sage nur, dass das, was bisher gemacht wurde, Flickwerk ist, weil es an einer Vision von einer guten Schule fehlt. Da gibt es dann mal irgendein Projekt, oder an einem Kölner Gymnasium das Fach „Lernen lernen“. Ich weiß nicht, ob es dafür auch eine Note gibt. Das ist doch kein Fach! Dann kommen die konservativen Lehrer und sagen: Das bringt doch alles nichts! Weil das alles so halbherzig gemacht ist. Und ich sage: Entwickelt doch mal eine Vorstellung, wo wir mit unseren Schulen überhaupt hinwollen. Dann machen wir das schon in kleinen Schritten. Ich will nicht die Schulen abreißen, aber ich muss ein Ziel haben, wo ich hinwill, statt zu viel halbherzigen Aktionismus. Zur Vorstellung eines solchen Ziels möchte ich beitragen.

Also eine Revolution, aber in kleinen Schritten. Droht da nicht auch die Gefahr der Halbherzigkeit?

Precht: Ich bin nicht gegen kleine Schritte. Die Abschaffung der Ziffernzensuren können Sie nicht in einem Jahr machen, sondern da müssen Sie mit einem Jahrgang irgendwann mal anfangen. Sie kriegen ja auch die vielen Lehrer, die auf das alte System hin ausgerichtet sind, nicht alle dazu, dass die so schnell umlernen.

Werden Schulen in zehn Jahren so aussehen, wie Sie es sich wünschen?

Precht: Alles, was ich vorschlage, gilt der Vorbereitung auf die zukünftige Gesellschaft, die die Schulen so jetzt nicht leisten. Und es ist Teil einer gewaltigen internationalen Bewegung. Denken Sie an Jesper Juul in Dänemark, Ken Robinson in England oder Salman Khan in den USA. Diese Gedanken werden unsere Schulen mit Sicherheit verändern - weit schneller, als viele es sich jetzt vorstellen können. Unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft brauchen dringend bessere Schulen.