"Honig im Kopf" besucherstärkster Film "Honig im Kopf" besucherstärkster Film: Zeit der Kannibalen und Rivalen beim Deutschen Filmpreis

Eine Nacht in Berlin. Es ist Wochenende und es geht dem frühen Morgen entgegen. Die Feierlaune im Club kippt allmählich in Katerstimmung hinüber, aber so recht ins Bett will noch niemand: Auch Victoria nicht, Sebastian Schippers Titelheldin in einem Film, der aus mehreren Gründen bemerkenswert ist: Weil er seine Geschichte in einer einzigen Kamerafahrt erzählt, weil er eine wunderbar zerbrechliche Protagonistin besitzt, die sozusagen direkt vom Feiern aus in einen haarsträubenden Bankraub gerät. Und weil „Victoria“ in sieben Kategorien für den Deutschen Filmpreis nominiert ist und damit als Favorit ins Rennen um die Lolas geht.
Bester Spielfilm (Nominierungsprämie je 250 000 Euro):
„Victoria“ von Sebastian Schipper
„Wir sind jung. Wir sind stark.“ von Burhan Qurbani
„Zeit der Kannibalen“ von Johannes Naber
„Who am I – Kein System ist sicher“ von Baran bo Odar
„Jack“ von Edward Berger
„Im Labyrinth des Schweigens“ von Giulio Ricciarelli
Bester Kinderfilm (Nominierungsprämie je 125 000 Euro):
„Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Neele Leana Vollmar
„Quatsch und die Nasenbärbande“ von Veit Helmer
Bester Dokumentarfilm (Nominierungsprämie je 100 000 Euro):
„Beyond Punishment“ von Hubertus Siegert
„Citizenfour“ von Laura Poitras
„Nowitzki. Der perfekte Wurf“ von Sebastian Dehnhardt
Beste weibliche Hauptrolle:
Nina Hoss („Phoenix“)
Laia Costa („Victoria“)
Katharina Marie Schubert („Ein Geschenk der Götter“)
Beste männliche Hauptrolle:
Christian Friedel („Elser – Er hätte die Welt verändert“)
Frederick Lau („Victoria“)
Hanno Koffler („Härte“)
Beste weibliche Nebenrolle:
Nina Kunzendorf („Phoenix“)
Meret Becker („Lügen und andere Wahrheiten“)
Claudia Messner („Die geliebten Schwestern“)
Beste männliche Nebenrolle:
Burghart Klaußner („Elser – Er hätte die Welt verändert“)
Joel Basman („Wir sind jung. Wir sind stark.“)
Gert Voss (posthum für „Im Labyrinth des Schweigens“)
Beste Regie:
Sebastian Schipper („Victoria“)
Edward Berger („Jack“)
Dominik Graf („Die geliebten Schwestern“)
Johannes Naber („Zeit der Kannibalen“)
Ein Abend wie eine Tombola
Diese werden am heutigen Freitagabend vergeben, und wenn es dann Nacht wird in Berlin, und wenn es dem frühen Morgen entgegen geht, wird auch die deutsche Filmszene feiern – ohne allerdings im Anschluss eine Bank zu überfallen. Warum auch? Der Filmpreis sorgt mit drei Millionen Euro für die größte Ausschüttung, die einer kulturellen Auszeichnung hierzulande zur Verfügung steht – und weil bereits die Nominierung viel bares Geld einbringt, wird der Abend von den Filmschaffenden herbeigesehnt wie eine Tombola. Mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters als Zeremonienmeisterin, die ihre Prämien mit vollen Händen unter die Leute bringt.
Das Preisgeld steht freilich nicht zur freien Verfügung. Der Deutsche Filmpreis ist Teil des weitverzweigten Subventionssystems, ohne das es hierzulande keine oder kaum Kinofilme geben würde. Es erstreckt sich über die regionalen Länderförderungen wie die Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen bis hin zur nationalen Filmförderungsanstalt des Bundes (FFA), die mit einem jährlichen Etat von 85 Millionen Euro ausgestattet ist. Wer beim Deutschen Filmpreis nominiert ist oder gewinnt, muss das Geld in die nächste Produktion stecken.
Jury mit biederem Ruf
Einer hat bereits jetzt gewonnen, nämlich Til Schweiger, der für seine Alzheimer-Tragikomödie „Honig im Kopf“ den – undotierten – Preis für den „besucherstärksten Film des Jahres“ erhält. Diese Würdigung hat insofern eine ironische Note, als Schweiger mit dem Filmpreis in der Vergangenheit gehadert hat, ja, er reicht seine Filme nicht einmal mehr ein.
Denn aufgerufen, aus einer Liste mit Vorschlägen zunächst die Nominierungen und dann die Sieger auszuwählen, sind die rund 1600 Mitglieder der Deutschen Filmakademie in Berlin – die Schweiger seines enormen Publikumserfolgs zum Trotz bislang beharrlich übergangen haben.
Der Konflikt berührt ein grundsätzliches Problem, das mit dem Jahr 2005 aufkam, als die Filmakademie die Preisfindung von einer unabhängigen Jury übernahm. In welche Richtung tendieren die Mitglieder der Deutschen Filmakademie, denen man nicht selten einen eher biederen Filmgeschmack attestieren darf – zur Komödie, die als Genre in Deutschland gut ankommt; oder zum ambitionierten Kunstfilm? Mit der Auszeichnung von Edgar Reitz und dessen Alterswerk „Die andere Heimat“ hatte man sich im vergangenen Jahr eindeutig positioniert.
Filme mit Ambitionen
In diesem Jahr ist neben Sebastian Schippers „Victoria“ mit „Zeit der Kannibalen“ von Johannes Naber ein weiterer ambitionierter Film nominiert. Naber treibt die Kunstwelt des Kapitalismus 2.0 auf die Spitze, mitsamt seines verschleiernden Vokabulars in Geschäftsdingen, des übers Smartphone geregelten Krisenmanagements, was das eigentlich nicht mehr existente Eheleben betrifft, und vielen Bonuspunkten für rastlos abgerissene Flugmeilen.
Einziger Schauplatz ist ein Hotelzimmer in irgendeiner Krisenregion, in dem die Schauspieler Devid Striesow, Johannes Blomberg und später Katharina Schüttler drei Geschäftsleute darstellen. Wo die Kamera in Schippers „Victoria“ auf eine rauschhafte Reise durch die Großstadt geht, bleibt sie bei Naber auf die Rolle des Stubenhockers reduziert.
Doku: Nowitzki vs. Snowden
Neugierig darf man auch sein, wer sich beim Dokumentarfilm durchsetzen wird. Hier konkurriert das unterhaltsame Sportlerporträt „Nowitzki. Der perfekte Wurf“ mit einem brisanten politischen Schwergewicht: In „Citizenfour“ hält die renommierte Dokumentarfilmerin Laura Poitras fest, wie sich Edward Snowden zur Veröffentlichung seines Insider-Wissens durchringt.
Wie bei allen Preisen, muss die Filmakademie beim Deutschen Filmpreis das Unvergleichbare miteinander in Beziehung setzen. Das Ergebnis kann notwendigerweise nur ungerecht sein.