Halberstadt Halberstadt: Die wilde Brocken-Reiterei
Halberstadt/MZ. - Hier oben herrscht immer der Ausnahmezustand.
Hexen und Gespenster also, Moorlichter und Echofiguren, die winterliche Natur in bizarren, windgeformten Schneeskulpturen. Dieser Berg hat nicht etwa nur, wie oft zu hören ist, ein sentimentales, sondern ein spirituelles Potenzial. Das treibt in einer durchsäkularisierten Gesellschaft seine Blüten.
Deutscher Zauberberg
Seit die ersten Jäger und Bergarbeiter im Mittelalter durch die weglosen Brockenwälder zogen, um Wild und Silberadern zu suchen, reist hierher, wer etwas Besonderes finden will. Die wahre Natur, die tiefe Einkehr, das große Vergnügen.
Insofern ist die kollektive Brocken-Wanderei, die so richtig erst im 18. Jahrhundert begann, eine selbstverständliche Wirkungs-Facette des deutschen Zauberberges. Und der erzeugt reizvolle Abbilder und literarische Texte in Serie, die nun das Halberstädter Gleimhaus präsentiert. Keine Kabinettausstellung unter vielen, sondern eine materialreiche Vitrinen-Schau, die über einige Räume dieses eine Thema entfaltet: "Der Brocken. Von der Entdeckung des ,Blocksberges' bis zum Harztourismus".
Letzterer begann, als Graf Ernst zu Stolberg-Wernigerode 1736 eine Schutzhütte, das "Wolkenhäuschen", errichten ließ. 1743 folgte das Wirtshaus auf der Heinrichshöhe, in dem ein Fremdenbuch ausgelegt wurde, dessen Eintragungen die Fieberkurve der Brocken-Wallfahrt demonstrieren. Erst 198, dann 421, von 1805 bis 1818 dann jeweils 1 130 Personen im Jahresschnitt. Um 1800 also begann der Brocken touristisch zu vibrieren. Sie alle kamen und stiegen auf: die Brüder Humboldt, August Wilhelm Schlegel, Goethe, Novalis, Andersen, Heine und Bismarck.
Hier oben konnte jeder nach seiner sinnlichen oder spirituellen Fasson selig werden. Goethe, der drei Mal den Berg bestieg, 1777: "Ich war oben heut' und habe auf dem Teufelsaltar meinem Gott den liebsten Dank geopfert". "Meinem Gott", der nicht der christliche Gott gewesen ist. Ein schöne Radierung von Daniel Chodowiecki (1726-1801) zeigt unter dem Titel "Die Blocksberger Reiterey" die Brocken-Begeisterung um 1800. Künstler- und Forscher, die dem Berg entgegenfliegen: auf dem Spinett, einer Staffelei, einem Blasebalg. Überhaupt sind eindrucksvolle Blätter im Gleimhaus zu sehen: Bestehorns großformatiger Kupferstich von 1732 etwa, der den "Blocken oder Blockenberg" zeigt, um dessen Kappe sechs niedliche, etwa stubenfliegengroße Hexen kreisen.
Rudolf Schades Hotel
Im Zuge der anschwellenden Brocken-Mania entwickelte sich ein Grafikhandel, der nahtlos in die Postkartenproduktion des 19. Jahrhunderts überging. Ihren zweiten Höhepunkt erreichte die Brocken-Lust Anfang des 20. Jahrhunderts. In den Vitrinen des Gleimhauses sind erstmals Dokumente und Erinnerungsstücke des aus Halberstadt stammenden Gastronomen Rudolf Schade zu sehen, der 1907 das Hotel auf dem Berg übernahm und 1926 die legendären "Walpurgisfeiern" neu begründete.
Schade verbesserte die Wasserversorgung des Hotels, ließ Gaslicht- und Heizungsanlagen installieren. Mit Erfolg. Zählten die Fremdenbücher 51 209 Personen im Jahr 1900, waren es in den 30er Jahren bereits 250 000 im Jahresschnitt. Und jeder Tourist war ein individueller Multiplikator der Brocken-Saga. Durch deren kunterbuntes Erinnerungsbilderalbum blättert das Gleimhaus aufs Schönste.
Bis 26.2.: Die-Fr 9-16 Uhr, Sa / So 10-16 Uhr. Öffentliche Führung: 22. Januar 15 Uhr, "Brocken-Nacht" am 3. Februar ab 20 Uhr. Am 26.2. liest Thomas Rosenlöcher zur Finissage