George Grosz George Grosz: Er hat noch einen Koffer in Berlin
Halle/MZ. - BERLIN / MZ- George Grosz, der 1932 von Berlin weg nach Amerika emigriert war, besaß ihn tatsächlich: den fabelhaften "Koffer in Berlin". Hinterlassen im Wohnhaus des Künstlers am Charlottenburger Savginy-Platz Nummer fünf. Dort fand man das Stück 1984, verstaut und vergessen im Kohlenkeller.
Ein Koffer mit 1 200 Briefen aus den Jahren 1917 bis 1932, an Grosz gerichtet unter anderen von John Heartfield, Erwin Piscator und Kurt Tucholsky. Dieser Koffer wiederum muss sich in einer Kiste befunden haben, die noch anderes freigab: 151 Jugendzeichnungen und 23 Porträtstudien, die Grosz um 1925 von dem Dichter Max Hermann-Neisse (1886-1941) fertigte, einem heute vergessenen Star der Berliner Literaturszene der 20er Jahre.
In einem eigenen Saal ausgestellt, bilden diese Zeichnungen die größte Überraschung der mehrfach überraschenden Schau, die die Berliner Akademie der Künste dem 1893 in Berlin geborenen sozialkritisch-satirischen Maler, Grafiker und Collagisten George Grosz widmet. Zu dessen Welt gehörte Max Hermann-Neisse ganz elementar: kritisch, humorig und melancholisch. Ein springlebendiger Geist in einem bucklig verzwergten Körper.
23 Mal von Grosz mit Bleistift gezeichnet, sieht man Max Hermann-Neisse in diesem Andachtsraum. Der Dichter, der 1941 verbittert im Exil im London starb. Kahler runder Schädel, Nickelbrille, wie in den Kopf zurückgezogene Augen, wulstig aufgeworfene Lippen. Max Hermann-Neisse, der 1929 über seinen Freund, den Maler, zu Papier gebracht hatte: "Ganz zu Hause fühlte ich mich stets bei George Grosz. Wir hatten ungefähr dieselbe Gesinnung und Stimmung, dieselbe Sammlerneigung und das gleiche (aggressive) Verständnis für die Kleinzüge des Lebens, wir stammten aus sehr ähnlicher Daseinsatmosphäre, wir tranken gleich gern Kirschwasser und redeten, wenn auch nicht denselben Dialekt, so doch dieselbe Sprache, wir waren beide sowohl Lyriker als Zyniker, korrekt und anarchisch!"
Das war genau gesehen und gut gesagt. Und so bildet die Formel "Korrekt und anarchisch" auch den Titel der Akademieausstellung, die sich größtenteils aus den 1984er Fundstücken bedient, darüberhinaus aber auch das reichhaltige, von 1967 an eingerichtete Grosz-Archiv der vormals Westberliner Akademie aufblättert. Was neben den Hermann-Neisse-Porträts am meisten überrascht: die Zeichnungen des Schülers, der eigentlich Georg Groß hieß und der Sohn eines Berliner Gastwirtes war; die große Auswahl von Skizzenbüchern der Jahre von 1905 bis 1958, von denen insgesamt 207 überliefert sind; schließlich die in Amerika hergestellten Collagen.
George Grosz, der Freizeit-Boxer, suchte die Gegnerschaft zur Mehrheitsgesellschaft, diese erst ermöglichte ihm die künstlerische Spannung. Dieses Selbst- und Weltverhältnis war nach 1945 neu zu entwerfen. Wie sein Künstlerfreund John Heartfield (1891-1968) in Ostberlin hatte Grosz von New York aus ein neue Werkstrategie zu finden. Auch Wieland Herzfelde (1896-1988), der Verleger und Heartfield-Bruder, gehört in diesen Kreis: ein kulturhistorisch und politisch ungemein interessanter Mann, den in einer eigenen Ausstellung zu sichten, überfällig ist.
Korrekt und anarchisch: Das also ist Grosz immer gewesen, der ein Kunststudium in Dresden absolviert hatte. Vom Akademischen kam er über den Dadaismus zu seiner Art der angreifenden Sozialgrafik und Collage; ein buchstäblicher Gegenwartskünstler, der - trotz einer frühen KPD-Mitgliedschaft 1919 - kein Ideologe, schon gar kein Kader-Kopf war. Der konnte er gar nicht sein, beladen von so viel tänzerisch kluger Melancholie.
Ein Mann, ein Werk, drei Säle in Berlin. Der Vorraum empfängt mit großformatigen Bildern (Grosz, der Angreifer mit Messer oder Boxhandschuhen), einem Film und schön gesetzten Zitaten wie: "Licht aus tausend Röhren umfließt uns, / und tausend violette Nächte / ätzen scharfe Falten / in unsere Gesichter." Notiert im Jahr 1915, ein Beginn im Zeichen des weltumarmenden Expressionismus. In der Mitte der Ausstellung die großen 20er-Jahre-Lithografien, die man kennt. Die "Ecce Homo"-Mappe, Blätter wie "Christus mit Gasmaske", all die Militärs, Industriellen und Huren, stets hart an der Karikatur. Neu und durchaus sprechend hingegen sind die Blätter des Kindes, angeregt von Ludwig Richter oder Wilhelm Busch. Ritterburgen und Stadtpartien: Bereits hier die Lust an Typen und Charakteren, an strichsicher vorgeführten Bürgern.
Eindrücklich die Collagen, die Grosz - "der traurigste Mensch in Europa" - von Amerika aus im Blick auf Nazideutschland herstellte. Ein Strandfoto aus Velhagen & Klasings Monatsheften zum Beispiel, auf dessen Horizontlinie Grosz 1937 den Kopf Hitlers klebte. Oder der altdeutsch-nazarenische Jünglingskopf von Julius Schnorr von Carolsfeld, über dem der Emigrant notierte: "Arbeiten und nicht verzweifeln", ein Buchtitel des schottischen Historikers Thomas Carlyle.
Auf Amerika, das Grosz eine Staatsbürgerschaft schenkte, als Deutschland ihm diese entzog, wollte der Künstler nicht mit derselben politischen Schärfe blicken wie auf die Verhältnisse in der Heimat; so sah er auf Amerika aus kulturkritischer Sicht: Konsum, Mode und Körperkult. Eine fremde Welt für den Abendländer, der auf einer Collage dem Mit-Emigranten Thomas Mann den Kopf einer Sonnenbrillen-Schönheit auf das Gesicht klebt: "Tod in Venedig" heißt das Blatt aus dem Jahr 1958.
Interessanter als der inflationär behauptete "analytisch sezierende Blick" (Klaus Staeck) des George Grosz, der in Wirklichkeit ein - auch stereotyp - beschreibender und inszenierender Duktus ist, ist das durchweg kindlich-spielerische Element in dieser Bilderwelt. Das von Anfang an Konfrontative, Überschäumende, Lässige, auch Traurige: Alles kommt von dorther.
Ein altes Kind, das jedenfalls ist George Grosz geblieben, der Anfang 1959 endgültig zurückkehrte nach Westberlin. Ein Foto zeigt ihn vor der Gedächtniskirche: der Fremde zuhaus. Noch immer wie aus dem Ei gepellt. Ein halbes Jahr darauf war der 65-Jährige tot. Und der Koffer noch lange nicht gehoben, dessen Inhalt nun nach und nach öffentlich ausgebreitet wird.
Bis 5. April: Akademie der Künste, Berlin-Mitte, Pariser Platz 4, Di-So 10-20 Uhr. Katalog: 112 Seiten, 17 Euro