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Gedenken Gedenken: Der Traum von der Ankunft

Von Christina Onnasch 18.07.2008, 19:46

Halle/MZ. - Ihre Ankunft als Autorin der deutschen Gegenwartsliteratur geschah Brigitte Reimann erst, als sie tot und die DDR längst untergegangen war. Das ereignete sich ausgerechnet mit den beiden Tagebuch-Bänden "Ich bedaure nichts" und "Alles schmeckt nach Abschied", die Ende der 90er Jahre erschienen. Die Wiederentdeckung verlief nicht klischeefrei. Eine Sexgöttin noch im Blaumann, die im Vorübergehen den Aufbau der neuen sozialistischen Stadt zum Stocken bringt, weil die Aktivisten-Brigaden ihr nachpfeifen, so stiefelte sie durch die Feuilletons. Das sagt einiges über ihre Wirkung als Frau und - es macht sie kleiner, als sie war.

Lässt man Zahlen sprechen, so ist Brigitte Reimann, die am 21. Juli 75 Jahre alt geworden wäre, eine Nachwende-Bestseller-Autorin. Von dem Roman-Fragment "Franziska Linkerhand" verkaufte der Aufbau-Verlag nach eigenen Angaben bisher 80 000 Exemplare; die Taschenbuchausgabe erscheint inzwischen in der zehnten Auflage. 150 000 Mal gingen die Tagebuch-Ausgaben bisher über die Ladentische. Es ist die besondere Mischung aus Privatem - vier Ehen, viele Affären, Sauf-Gelage - und Innensichten des DDR-Alltags, das sich zu einem Stück unverstellter Zeitgeschichte verdichtet.

Oranienbaum im Juli: Ein Besuch bei Brigitte Reimanns jüngerem Bruder Ulrich und seiner Frau Sigrid. Beide wurden 1941 geboren; bis zur Pensionierung arbeitete er als Ingenieur und sie als Ärztin. "Die Tagebücher erstaunen uns heute noch, da steht vieles drin, was wir nicht wussten - die Männergeschichten, der Alkohol", sagt Ulrich Reimann. Ihr Erinnern ist keine Arbeit an einem Denkmal. Wenn sie gefragt werden, geben sie Auskunft - mit der Warmherzigkeit naher Verwandter, aber auch mit der Lakonie distanzierter Beobachter. Im Grunde sind Sigrid und Ulrich Reimann die einzigen, die aus der Familie als Zeitzeugen übrig geblieben sind. Die Eltern Elisabeth (1905 bis 1992) und Willi (1904 bis 1990) leben nicht mehr. Die vier Geschwister sind: Brigitte (1933 bis 1973), Ludwig (geboren 1934), Ulrich (geboren 1941) und Dorothea (geboren 1943). Dorothea ist inzwischen schwerkrank, Ludwigs Erinnerungen sind von einem folgenreichen Zerwürfnis mit seiner Schwester geprägt. "Das hat Wunden hinterlassen, die bis heute zu spüren sind", sagt Ulrich Reimann.

Der Blick geht zurück auf eine kleinbürgerliche Kindheitswelt in Burg. Ulrich Reimann ist acht Jahre jünger als seine Schwester Brigitte und damit "einer der beiden Kleinen". Seine bewussten Erinnerungen setzen kurz nach dem Untergang des Nazi-Reiches ein. Im Gegensatz zum nahen Magdeburg ist die Kleinstadt äußerlich unbeschadet geblieben. Die Reimanns waren keine Nazis, Widerständler auch nicht. 1947 kehrt der Vater angeschlagen aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, arbeitet später wieder in seinem Beruf als Bankkaufmann. Die beiden älteren Kinder Brigitte und Lutz, wie Ludwig genannt wird, sind dabei, als sozialistisch erglühte FDJ-Funktionäre an ihrer Schule eine bessere Welt aufzubauen. In der neuen DDR nehmen beide auch Willkür, Opportunismus, Unterdrückung wahr - mit unterschiedlichen Folgen. Auf einmal geht der Riss der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte mitten durch die Familie Reimann. 1960 geht Lutz in den Westen, seine Schwester Brigitte begibt sich ideell auf den Bitterfelder Weg und kommt in Hoyerswerda an.

Dort watet die Autorin durch schlammige Baustellen, kämpft mit betonköpfigen Funktionären, ärgert sich über die Spießbürgerlichkeit ihrer Mitmenschen. Das zerstört ihren Traum von der neuen sozialistischen Stadt aber nicht, die hell, kommunikativ, menschenfreundlich sein soll. Ludwig bemerkt bei seiner Schwester "eine gewisse Realitätsferne", so steht es es in dem vom Hoyerswerdaer Kunstverein herausgegebenen Zeitzeugen-Band ",Was ich auf dem Herzen habe.' Begegnungen mit Brigitte Reimann". Das mag richtig sein, aber es verkennt: Während seine Kritik an der DDR fundamental ist, glaubt die Schwester Brigitte noch an ihr Gelingen als Staat.

Dieser Abgrund beschädigt das Verhältnis der Geschwister entscheidend; die Briefe der Autorin erzählen von ihrem Leiden daran. "Sie war eine Idealistin", sagt Ulrich Reimann. Die Arbeiter in ihren Erzählungen seien immer fleißiger, klassenbewusster und zukunftszugewandter gewesen, als er sie selbst kannte. Von 1961 bis 1967 hat Ulrich Reimann Schiffselektronik in Rostock studiert.

Brigitte Reimanns Verhältnis zu den Eltern und den beiden Geschwistern bleibt trotz Meinungsverschiedenheiten und der räumlichen Entfernung offen und liebevoll. Der Band "Jede Sorte von Glück" mit Briefen der Autorin an Mutter und Vater spiegelt das wider. "Es wurde viel diskutiert, auch über Brigittes Bücher", erzählt Sigrid Reimann, die auch zeitweise in Burg aufwuchs und Ulrich 1966 heiratete. Die Familie ist ein Echoraum und mit Brigitte Reimanns fortschreitender Krebserkrankung ein wichtiger Rückhalt. Auch für ihren Roman "Franziska Linkerhand", an dem die Schriftstellerin zehn Jahre lang bis zu ihrem Tod 1973 arbeitet. Der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 in Prag kommt dazwischen. "Seit der CSSR-Affäre hat sich mein Verhältnis zu diesem Land, zu seiner Regierung sehr geändert. Verzweiflung, manchmal Anfälle von Haß", ist im Tagebuch nachzulesen. Demnach ist Brigitte Reimanns Roman-Heldin, die Architektin Franziska, klüger als ihre Autorin. Sie war nämlich schon an der DDR gescheitert.

Was wäre aus Brigitte Reimann geworden, wenn sie weitergelebt hätte? Ein Gedankenspiel, aber eines, das Sigrid und Ulrich Reimann schon öfter gespielt haben müssen. "Sie hätte die ,Franziska Linkerhand' überarbeitet, und es wäre ihr erstes richtiges Buch geworden", da ist Sigrid Reimann sicher. Hätte sie sich wie Christa Wolf, Franz Fühmann oder Heiner Müller literarisch aus dem Alltag verabschiedet und die Auseinandersetzung mit der Gegenwart in die griechische Antike, in die Romantik oder in Shakespeare-Dramen verlegt? Möglich. "Bestimmt hätte Brigitte 1976 den Appell gegen die Biermann-Ausbürgerung unterschrieben", sagt Ulrich Reimann. "Aber sie wäre nicht in den Westen gegangen, dann wären ihr auch die Themen abhandengekommen." Und 1989, als die reale DDR zusammenbrach und mit ihr der große Traum von einer besseren Welt? Wahrscheinlich wäre die Schriftstellerin Brigitte Reimann trotz ihrer bestehenden Zweifel von den Schmerzen der Ablösung gezeichnet gewesen.