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Neues Buch „Der stille Freund“ - Von Schirachs neue Erzählungen

Eiskalte Rächer, verbrecherische Künstler und die ewige Frage nach dem Sinn des Lebens. Ferdinand von Schirachs aktueller Erzählband ist eine ziemlich melancholische Lektüre.

Von Sibylle Peine, dpa 27.08.2025, 13:07
Zu seinen wiederkehrenden literarischen Themen zählen Verbrechen und Schuld: Ferdinand von Schirach. (Archivbild)
Zu seinen wiederkehrenden literarischen Themen zählen Verbrechen und Schuld: Ferdinand von Schirach. (Archivbild) Rolf Vennenbernd/dpa

Berlin - Es gibt wenige Aspekte des Lebens über die Ferdinand von Schirach (61) noch nicht geschrieben hat. Seine immer wiederkehrenden Themen sind Verbrechen und Schuld, die Willkürlichkeit und Verletzlichkeit des Lebens, die Flüchtigkeit des Augenblicks - aber auch der Trost und die innere Befriedigung, die Literatur, Musik und Kunst bieten. Insofern erscheint sein neuer Erzählband „Der stille Freund“ (veröffentlicht am 27.8. im Luchterhand Literaturverlag) wie eine Verdichtung seines Werks, eine Ausleuchtung des Lebens in Kurzform.

Meistens ist der Auslöser für die insgesamt 14 Geschichten eine Begegnung des Ich-Erzählers mit Freundinnen, Bekannten oder Mandanten an oft erlesenen Schauplätzen wie Kapstadt, Rom, Wien oder der Côte d’Azur. In der Regel sind es privilegierte kosmopolitische Menschen, die an Internaten und Colleges gelernt haben, die viel in der Welt unterwegs sind, sich in wichtigen Netzwerken bewegen, akademische Berufe ausüben. Einige sind von Adel, wenn auch verarmt, manche müssen gar nicht arbeiten. Doch hinter diesem scheinbaren Glamour verbergen sich oft menschliche Abgründe und Tragödien.

Von harmloser Plauderei zum Horrortrip

In besonders krasser Form wird das in der Geschichte „Spiegelstrafe“ deutlich. Sie beginnt als harmlose Gesellschaftsplauderei über Proust und Capote und endet in einem Horrortrip. Cynthia ist eine Freundin des Erzählers aus Münchener Kindheitstagen. Sie stammt aus einer schlesischen Adelsfamilie, die im Krieg alles verlor. Trotzdem haben ihre Großeltern ihre Upper-Class-Attitüde unverdrossen weiterbehalten, weil sie ihnen Halt und Sicherheit bot. 

Cynthia versuchte aus dieser starren Welt auszubrechen, liierte sich mit dem proletarischen Mateo, der seine Jugend in einem Boxstudio verlebte und es dann als Immobilienmakler zu Geld brachte. Doch er entpuppt sich als Alkoholiker und Schläger. Später lernt sie Nicco kennen, einen sanften Homosexuellen, der sie auf Händen trägt.

Als er erfährt, was Mateo ihr einst angetan hat, rächt er sie mit einer monströs inszenierten Bestrafungsaktion, die von Schirach in allen Einzelheiten schildert. Danach verliert Cynthia jegliche Abenteuerlust. Ihr Ideal ist fortan ein behütetes Leben in einem feudalen Ambiente – genau wie einst ihre Großeltern.

Schirach stellt moralische Fragen

Nicht alle Geschichten sind so drastisch, aber ein düsterer Sound ist doch bei den meisten unterlegt. Von Schirach stellt moralische Fragen wie diese: Kann man einen Künstler für sein Werk schätzen, der ein Verbrecher war? In der Erzählung „Ornament und Verbrechen“ erzählt er die Geschichte des berühmten Wiener Architekten Adolf Loos (1870-1933), der nach heutigen Begriffen ein Kinderschänder war, aber von Zeitgenossen und auch von Juristen in einem Prozess mit großer Milde behandelt wurde. Ungemütliche Fragen nach dem Sinn reißt von Schirach ebenfalls an.

In der Erzählung „Unfälle“ geht es um einen Mann, der als Mensch und Unternehmer kalt und rücksichtslos war, aber dann ausgerechnet bei seiner einzigen guten Tat ums Leben kam. „Was ist der Sinn der Geschichte?“, fragt der Sohn fassungslos.

Auch bei der titelgebenden Geschichte „Der stille Freund“ steht ein Sinnsucher im Mittelpunkt. Massimo durchstreift die Bibel, die Welt der Antike, die Philosophie und Naturwissenschaften, immer auf der Suche nach den Regeln und dem Sinn des Lebens und findet ihn schließlich in der Schönheit des Augenblicks. Doch der Erzähler erklärt lapidar alle Sinnfragen schlichtweg zu „Kinderfragen“, denn: „Niemand weiß, warum das eine Leben glückt und das andere nicht. Es gibt keine Regeln, es gab sie noch nie.“

Ziemlich melancholische Lektüre

Die Geschichten sind anregend, nachdenklich, vielfach spannend mit einem überraschenden Plot, doch sie sind auch eine ziemlich melancholische Lektüre. Wer etwas Mutmachendes sucht, sollte die Geschichte über Gottfried von Cramm (1909-1976) lesen, den Gentleman-Tennisspieler der 1930er Jahre, den ein Richter in der Erzählung als leuchtendes Beispiel für Integrität und Fairness hervorhebt.

Bei einem legendären Davis Cup-Halbfinale meldete von Cramm einen von ihm begangenen Regelverstoß, den sonst niemand bemerkt hatte. Das kostete Deutschland den Sieg. Als man ihn daraufhin als Vaterlandsverräter beschimpfte, entgegnete der Tennisspieler kühl, er glaube nicht, das deutsche Volk verraten zu haben: „Ich glaube vielmehr, dass ich es geehrt habe.“