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Brandenburg Brandenburg: Haneke in Gummistiefeln

04.03.2010, 15:44

Netzow/dpa. - Auch nachgebildeteKlinkerfassaden, die viele Häuser im Dorf 100 Jahre älter wirkenließen, Kirchenbänke und die Krone für das Erntefest liegen nochheute in der Scheune von Volker Pagel. «Die Sachen braucht einfachkeiner mehr», sagt der 46-Jährige, der sie dennoch aufbewahrt.Schließlich ist das meiste Material so gut wie neu.

Ein Besuch auf Pagels Grundstück ist wie ein Gang durch einMuseum. Vor fast zwei Jahren drehte Regisseur Michael Haneke inNetzow den mit Preisen überhäuften und nun auch Oscar-nominiertenSchwarz-Weiß-Film «Das weiße Band». Und Pagel, ein sonst eherwortkarger gebürtiger Mecklenburger, wird angesichts der vielenErinnerungen gesprächig.

Irgendwann, im Jahr 2007, seien «komische Gestalten» im Dorfunterwegs gewesen, erzählt er. Sie hätten alles ganz genau inspiziertund fotografiert, sich aber nicht vorgestellt. Auch ein Mann inSteppmantel und Gummistiefeln sei dabei gewesen: Das war Haneke, wiesich später herausstellte. Auf einer extra einberufenenDorfversammlung habe die Ortsbürgermeisterin schließlich erläutert,dass in dem 130-Seelen-Dorf Netzow ein Film gedreht werden soll.

Aus dem kleinen Ort in der Prignitz sollte für etwa vier Wochendas norddeutsche, protestantische Dorf «Eichwalde» werden, in dem1913/1914, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, mysteriöse Dinge geschehen.Der Dorfarzt stürzt mit seinem Pferd über ein zwischen zwei Bäumegespanntes Drahtseil. Eine Bauersfrau stirbt bei einem Arbeitsunfallim Sägewerk. Beim Erntedankfest wird der Kohlgarten des Baronszerstört. Sein Sohn wird entführt und misshandelt. Die Suche nach demTäter beginnt, als auch das behinderte Kind der Hebamme entführt undspäter schwer misshandelt gefunden wird.

«Wir haben fast 400 Dörfer gecastet», sagt Herstellungsleiter UlliNeumann von der Berliner Produktionsfirma X-Filme. Hanekes Vorgabenseien ganz klar gewesen: Das Dorf sollte aussehen wie vor etwa 100Jahren - unverbaut, mit unbefestigter Straße und Kirche im Zentrum.Das gut zwei Stunden von Berlin entfernte Netzow sei ideal gewesen.Produzent Stefan Arndt brachte die Suche nach dem perfekten Drehortjüngst in einem Interview auf den Punkt: «Wir haben von der Ukrainebis Nordfrankreich gesucht und Netzow war der am wenigsten versauteOrt.»

Neben Netzow wurden auch das benachbarte Michaelisbruch,Zechlinerhütte bei Rheinsberg und das mecklenburgische Johannstorf zuDrehorten. Die typischen, von Arbeit und Sonne gegerbten Gesichterder Bauern aus der damaligen Zeit fanden die Produzenten allerdingsnicht in Brandenburg, sondern in Rumänien. «Für einige Drehtage habenwir daher Komparsen von dort nach Deutschland geholt», erklärtNeumann.

Volker Pagel und seine Frau Heike sind stolz darauf, dass die Wahlfür den Hauptdrehort gerade auf ihr Dorf fiel. Immerhin hat der Filminzwischen eine Goldene Palme und einen Golden Globe gewonnen undNetzow damit weit über seine Grenzen hinaus bekannt gemacht. «Daskonnte doch vorher niemand ahnen.»

Den genauen Inhalt des Films kannte das Ehepaar während derDreharbeiten nicht und auch von Haneke hatten sie vorher noch nichtgehört. Dass es in seinem Film um die repressive Erziehung einerGeneration geht, die dem Krieg entgegentreibt, haben die Pagels erstim Kino gesehen. Der Film erzählt auch von einem sittenstrengenPfarrer, der seinen Kindern bei kleinsten Vergehen weiße Bänderumbindet, um sie an verlorene Tugenden zu erinnern.

Die Pagels hätten eigentlich nicht vorgehabt, bei den Dreharbeitenirgendeine Rolle zu spielen, sagen sie. Doch es kam anders. Ihr Hofwurde für gut zehn Wochen Dreh- und Angelpunkt der Filmleute. «DieScheune war Schuld», sagt Volker Pagel. Dort wurden Requisitengelagert und dort wurde gegessen. Der mit Tüchern abgetrennte und vonHeike Pagel mit Stroh und Blumen dekorierte Hauptteil wurde zurKantine. An den langen Biertischen gab es vier Wochen lang dreimaltäglich Essen für jeweils bis zu etwa 100 Leute. Die Mahlzeiten ­immerhin standen mittags vier Gerichte zur Auswahl ­ seien das Besteüberhaupt gewesen, schwärmt sie. «Auf gutes Essen hat der Haneke jasehr viel Wert gelegt.»

Gekocht hat eine Cateringfirma aus Berlin in einer mobilen Küche.«Manchmal hat unser Sohn Alexander auch mitgeholfen», berichtet dieMutter stolz. An den warmen Sommerabenden trank Volker Pagel mit denFilmleuten gerne mal ein Bier. Und gefeiert wurde auch. «Es gab eineKennenlernparty und ein Bergfest nach der Hälfte der Dreharbeiten fürdas ganze Dorf», erzählt der selbstständige Heizungsbauer.Schauspielgrößen wie Ulrich Tukur, Burghart Klaußner oder SusanneLothar gingen vier Wochen lang auf Pagels Hof ein und aus. Die vielenKinderschauspieler wurden von zwei Animateuren bei Laune gehalten.«Wenn die blaues Eis wollten, haben die das bekommen», berichtetVolker Pagel. Berührungsängste - so sagen die Pagels - habe es nichtgegeben. Schließlich seien auch die Schauspieler ganz normale Leute.«Alles ganz nette Menschen, überhaupt nicht abgehoben», ist sich dasEhepaar einig.

Volker Pagel hat auf seinem Laptop hunderte Fotos gespeichert, dieihm der Leiter der Bautruppe nach den Dreharbeiten geschenkt hat. Siezeigen den Bau des Arzthauses am Dorfrand und den Transport dermeterhohen Birken, die extra gepflanzt wurden. Sie zeigen dieSchauspieler in der «Kantine», bei Filmarbeiten und in den Drehpausenunterm Sonnenschirm beim Kaffeetrinken. Selbst von den Hühnern, dieim Film zum Dorfleben gehören, hat Pagel Bilder. «Die Hühner wurdenextra eingekauft», erzählt er. Schließlich sollte es eine Rasse sein,die vor 100 Jahren verbreitet war.

Für die Dreharbeiten wurde der Verkehr umgeleitet. Das Dorf seifast wie ein großes Studio gewesen, erinnert sich HerstellerleiterNeumann. Wie viel Arbeit im Umbau des Dorfes steckte, zeigt derFotoband «Where has all the money gone» (Wo all das Geld hingeflossenist). Das Buch ist ebenfalls ein Geschenk der Bauleute an die Pagels.Es zeigt den Jugendclub vorher - mit Plüschsofas, Kickertisch undWänden voller Graffiti und nachher ­ als Dorfschule mitholzgetäfelten Wänden und alten Möbeln.

Andere Bilder zeigen die Dorfmitte ­ vorher mit Plastikmülltonnenund Autos und nachher ohne all diese Errungenschaften der vergangenen100 Jahre. «Die haben in wenigen Wochen ein neues altes Dorfgeschaffen», sagt Volker Pagel, der auch zwei Jahre später immer nochüber den riesigen Aufwand staunt. «Manche Leute haben ihre Häusernicht wiedererkannt.»

Und doch war die Verwandlung Netzows in ein Dorf um dieJahrhundertwende weitaus günstiger, als ein komplettes Kulissendorfaus dem Boden zu stampfen. Das hätte nach Angaben des ProduzentenStefan Arndt mehrere Millionen Euro verschlungen. Der Umbau Netzowskostete dagegen nur rund 300 000 Euro - und sei nach Ende derDreharbeiten auch schnell wieder rückgängig gemacht worden, sagtPagel. Der Jugendclub ist wieder in den Urzustand zurückversetzt, mitSatellitenschüssel an der Hauswand. Die neuen Briefkästen hängen unddie Mülltonnen stehen wieder. Außerdem haben die Netzower jetzt eineasphaltierte Straße, deren Bau wegen des Drehs verschoben worden war.

Spuren hat das «Weiße Band» im Dorf kaum hinterlassen. Auch an derDorfgemeinschaft hat der Film nach Ansicht der Pagels nichtsgeändert. Nur am Rande von Netzow erinnert noch ein kleines Gebäudean die Dreharbeiten. Darüber freut sich Wilko Gatzke vom Dorfvereinganz besonders, denn sein Verein kann den Raum jetzt fürVeranstaltungen nutzen. «Die Filmleute wollten eigentlich ein Zeltfür Kostüme und Maske bauen», erzählt der 34-Jährige. Doch der Vereinhabe das Team von einem Neubau überzeugen können, an dem sich dieNetzower finanziell beteiligten.

Gatzke hat noch jede Menge andere Erinnerungen an den Sommer 2008,den er als «ein einziges Highlight» und «schöne Abwechslung» erlebte.Schließlich stand er als Komparse selbst vor der Kamera. Er spielteeinen Heuwagenfahrer und war in einer Beerdigungsszene für dieBauersfrau dabei. «Von einer Filmkarriere träume ich jetzt abernicht. Auch Anfragen aus Hollywood gab es noch keine», sagt derHausmeister, der jetzt im Winter kaum Arbeit hat, und schmunzelt. Eindicker Ordner mit Fotos, das Buch zum Film und ein Foto desumgestalteten Dorfes erinnern ihn an diese Zeit. Die letzte Seite inseinem Fotoalbum hat er mit den Worten «ein wehmütiger Blick zurück»überschrieben.

Gatzke, Familie Pagel und viele andere Dorfbewohner haben den Filmgesehen, noch bevor er offiziell im Kino anlief. Mit zwei Reisebussenfuhren sie ins Kino im 50 Kilometer entfernten Wittenberge zurVorpremiere. Gatzke war trotz der bedrückenden Geschichte begeistert.«Uns wurde ja gleich gesagt, dass es keine Komödie ist.» Die Pagelswollen den Film ein zweites Mal sehen. Bei der Premiere hätten siesich vor allem auf die Drehorte und bekannte Details konzentriert,sagt Heike Pagel.

Bei den Dorfbewohnern steigt kurz vor der Oscar-Verleihung inHollywood in wenigen Tagen die Spannung. «Das weiße Band» ist gleichzweimal für die begehrte Auszeichnung nominiert - als bester nicht-englischsprachiger Film und für die beste Kameraführung von ChristianBerger. Pagel hofft, dass der Film auch dieses Mal wieder einen Preisabräumt.

Damit der Film auch später nicht aus dem Gedächtnis der Netzowerverschwindet, sei eine Art Denkmal im Dorf geplant, die Form steheallerdings noch nicht fest, erklärt Ulli Neumann. Volker Pagelwünscht sich einen Stein, auf dem die Filmpreise verzeichnet seinkönnten. «Ein Stein verwittert nicht und hält einfach am längsten.»