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Analyse zur Stasi-Telefonüberwachung Analyse zur Stasi-Telefonüberwachung: Leg nicht auf!

Von christian eger 12.02.2015, 07:33
Horch und guck: Stasi-Mitarbeiter beim Abhören von Telefongesprächen, hinten die Tonbänder
Horch und guck: Stasi-Mitarbeiter beim Abhören von Telefongesprächen, hinten die Tonbänder BStu, Mfs, ha iii, Fo 0313 Lizenz

halle (Saale) - Ostberlin in den 80er Jahren: Um sechs Uhr morgens wird Ralf Hirsch aus dem Schlaf gerissen. Vor der Wohnungstür des Oppositionellen steht ein Entstörtrupp der Deutschen Post. „Guten Morgen, Sie haben eine Telefonstörung und uns bestellt?“

Von wegen! Weder hatte Hirsch das eine bemerkt noch das andere getan. Mitten in der Nacht war er nach Hause gekommen und hatte seitdem zu keinem Zeitpunkt das Telefon bedient. Es wäre auch nicht möglich gewesen, denn der Anschluss war gestört. Nur hatte das nicht Hirsch, sondern die Stasi festgestellt. Denn wenn eine vom Geheimdienst abzuhörende Leitung tatsächlich gestört war, nutzte auch die ausgefeilteste Abhörmethode nichts. Nicht Hirsch, sondern die Stasi hatte den Post-Trupp bestellt. Ein Service, der sonst sehr lange auf sich warten ließ.

Nicht nur in diesem Fall war die Stasi schneller als die Polizei erlaubt. Denn auch nach DDR-Recht waren die meisten Abhöraktionen illegal. Der Alltag sah anders aus. Wie, warum und mit welchen Folgen die Stasi mit an den Telefonen hing, zeigt jetzt eine von den Historikern Ilko-Sascha Kowalczuk und Arno Polzin herausgegebene Studie. Unter dem Slogan „Fasse Dich kurz!“ liefern die Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde eine tiefschürfende Untersuchung zum von der Stasi überwachten grenzüberschreitenden Telefonverkehr in den 80er Jahren.

Ein ziegelsteindickes Buch, das sich seinerseits nicht kurz fasst, sondern über 1 000 Seiten zählt. Aber man darf sich vom Umfang nicht verschrecken lassen, im Gegenteil. Das Buch ist erstaunlich nützlich. Es bietet einen Grundkurs in Sachen DDR-Opposition der 80er Jahre (die kirchliche Lage inklusive), 151 Abhörprotokolle, die allein rund 700 Seiten füllen, sowie ein Glossar, das Personen, Begriffe, Ereignisse und Institutionen vorstellt.

„Tal der Ahnungslosen“

Die eigentliche Sensation ist das Thema selbst, nämlich der Umstand, dass überhaupt eine Auswertung von Abhörprotokollen gelungen ist. Die unter massiven Rechtsverstößen erstellten Akten gelten als „Tabu-Quelle“, die unter einem besonders strikten Verwendungsverbot stehen. Zumal in einer Behörde, die auch schon mal die Nennung von „Jesus“ bei der Herausgabe von Akten schwärzte.

Dass dieses Buch nun möglich war, ist den DDR-Oppositionellen Roland Jahn und Wolfgang Templin zu danken, die 2006 - also Jahre bevor Jahn zum Chef der Stasi-Unterlagenbehörde berufen wurde - ein Forschungsprojekt zu den Telefonakten der Stasi anregten. Ein Projekt, das sofort Unterstützer fand. Zu Recht, denn die Studie schreibt nicht nur DDR-Oppositions-, sondern auch Alltagsgeschichte, zu der das Telefonieren gehörte.

Oder vielmehr: nicht gehörte. Denn die Ausstattung mit Telefonen war in der DDR steinzeitlich; ein Fünftel der Vermittlungstechnik stammte aus der Weimarer Republik. Eine Statistik von 1988 zeigt die Verteilung der rund eine Million privaten Telefone, die 16,4 Prozent der Haushalte besaßen. Die Zahlen belegen: Dresden war auch telefontechnisch ein „Tal der Ahnungslosen“. Dort verfügten nur 11,4 Prozent der Haushalte über einen Anschluss, Halle lag mit 13,2 im Mittelfeld, aber Ostberlin mit 50,4 Prozent an der Spitze.

In der Hauptstadt konzentrierte sich ein großer Teil der Angehörigen des Staats- und Machtapparates, die ständig erreichbar zu sein hatten. Und auch nach Bedarf am Telefon überprüfbar. Nicht nur die Stützen des Staates mussten auf einen Anschluss nicht lange warten, sondern vorzugsweise auch dessen Gegner nicht.

Aufnahmen als „Beweismittel“

Bärbel Bohley, Ralf Hirsch und Lutz Rathenow wurden rund um die Uhr belauscht, Gerd und Ulrike Poppe erhielten einen Anschluss kurz vor dem DDR-Besuch der Spitzen-Grünen Petra Kelly, der Liedermacher Stephan Krawczyk bekam ein Telefon bereits 14 Tage nach Antragstellung. Das Telefon war das Hörrohr, das der SED-Staat in die Welt hineinhielt: nach Westen geführt von der Stasi-Hauptabteilung III, in die DDR-Gesellschaft hinein von der Technischen Abteilung 26.

Die Oppositionellen wussten, dass sie abgehört wurden; das machte jedes Telefonat zu einer Tat. Die Protokolle belegen die Radikalisierung der Opposition, das Anwachsen von Klugheit, Realismus, Angstferne; insofern macht es heute auch Vergnügen, den Wortwechseln zu folgen. Dem notierten Lachen von Bärbel Bohley. Dem Mutwillen von Ralf Hirsch. Der SED-Staat nutzte die Aufnahmen als „Beweismittel“. Strafverfahren und Gefängnis drohten.

Der Geheimdienst blieb stets hinter seinem Plan zurück. Vor allem aus technischen Gründen. Nur 4 000 Anschlüsse konnten zeitgleich überwacht werden; der Mangel an Kassetten und Tonbändern machte ein schnelles Überspielen notwendig. Templin, 1988 nach einer Unterbrechung am Telefon: „Hattest Du das ausgelöst?“ Jahn von Westberlin aus: „Nee, nee, die ham erstmal Bandwechsel gemacht.“

Zwei Mythen zerstört das Buch. Erstens, dass die Stasi in der Lage gewesen sei, alle und alles zu überwachen. Zweitens, dass diese ein „abgeschirmter Staat im Staate“ gewesen sei, wie Egon Krenz nach Haltet-den-Dieb-Methode 1990 weismachen wollte; die Verbindungen zu den SED-Auftraggebern liegen offen. Genauso wie die Antwort auf die Frage, wo denn der Unterschied zur heute notorischen Abhör-Kultur liegt: Nämlich in der zielgerichteten, juristisch sanktionierten Nutzung des Erlauschten gegen den Einzelnen, wie er in der DDR möglich war. (mz)

Ilko-Sascha Kowalczuk,Arno Polzin (Hg.):Fasse Dich kurz!Vandenhoeck & Ruprecht,1.059 Seiten,69,99 Euro
Ilko-Sascha Kowalczuk,Arno Polzin (Hg.):Fasse Dich kurz!Vandenhoeck & Ruprecht,1.059 Seiten,69,99 Euro
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