1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Amos Oz erzählt sein Leben in unwiderstehlichem Meisterwerk

Amos Oz erzählt sein Leben in unwiderstehlichem Meisterwerk

Von Thomas Borchert 20.10.2004, 11:26

Frankfurt/Main/dpa. - Mit 77 Jahren habe sein gerade verwitweter Großvater die Freuden der Sexualität entdeckt und von da an 20 Jahre in vollen Zügen mit wunderbaren Frauen genossen, erzählt Amos Oz in «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis».

Das Geheimnis des großväterlichen Charmes habe in einer bei Männern sehr seltenen Gabe bestanden, «die viele Frauen als die anziehendste überhaupt betrachten: Er hörte zu.» Und das auf feinfühlende Art: «Er ging nicht berechnend vor. Nahm sich nicht einfach das Seine. Hatte es nie eilig. Segelte gerne dahin und warf nie überstürzt den Anker.»

Eilig hat es beim Erzählen seines Lebens auch der 65-jährige Oz nicht, Israels meistgelesener zeitgenössischer Autor, unermüdlicher und oft verzweifelter Kämpfer für ein friedliches Miteinander mit den Palästinensern. Fast 800 Seiten nimmt er sich für die Geschichte seiner Familie, ohne bis zur letzten irgendwo oder irgendwie «überstürzt den Anker zu werfen». Als Erzähler wunderbar geduldig, immer aufmerksam anderen zugewandt, voller zärtlicher Menschenfreundlichkeit, witzig ohne Schielen auf Gags, spannend ohne künstlich gebaute dramatische Höhepunkte, aber auch vorbehaltlos offen für jede Form von Schmerz, Zorn und ausweglosem Leid, hat Oz ein Meisterwerk geschrieben.

Der Sog seiner Geschichten von der Auswanderung der Eltern 1933 aus dem russischen Odessa über Wilna nach Jerusalem über das erst langsam einsickernde Wissen um die Vernichtung der Juden in Europa, den Selbstmord der Mutter 1952, die Pionierjahre im Kibbuz und vieles mehr ist unwiderstehlich. Die nie versiegende Freude des Autoren am oft spielerischen Umgang mit Sprache stellt auch dank der Übersetzung aus dem Hebräischen von Ruth Achlama einen weiteren Glanzpunkt dar.

Persönliches und die politische Geschichte Israels verwebt Oz völlig mühelos miteinander, erzählt präzise und detailliert, scheint schier unendlich angefüllt zu sein mit erhellenden Erinnerungen, Sinneseindrücken und Geschichten. Vor allem die wild bewegte Entstehungsgeschichte des Staates Israel wird mit der eigenen Familie im Zentrum mitreißend und spannend erzählt. Der Vater, Sprachgenie und hoch qualifizierter Wissenschaftler, musste sich als Zuwanderer wie zahllose andere Juden aus dem alten Europa zeit seines Lebens mit wenig befriedigenden Jobs als Archivar zufrieden geben. Er tröstete sich mit Büchern.

«Als kleiner Junge wollte ich, wenn ich einmal groß wäre, ein Buch werden. Nicht Schriftsteller, sondern ein Buch», schreibt Oz. Bücher könne man im Gegensatz zu Menschen, also auch Schriftstellern, nicht vernichten, dachte der Junge Amos. Zwischen zwei Buchdeckeln und mit 50 Jahren Anlauf hat Oz zum ersten Mal überhaupt den Selbstmord seiner für ihn immer rätselhaft gebliebenen Mutter in Worte gefasst. So teilt er es auch dem Leser mit.

Er nennt sein Buch «Roman» und reflektiert ausführlich, was an den 765 Seiten tatsächlich autobiografisch sei. Hier steht ein Rat, der wunderbar formuliert, aber angesichts der Nobelpreis-Klasse dieser Erinnerungen fast überflüssig ist: «Frage bitte nicht: Sind das wirklich Tatsachen? Frage dich selbst. Über dich selbst. Und die Antwort kannst du für dich behalten.»

Amos Oz

Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main

765 S., Euro 26,80

ISBN 3-518-41616-2