100. Geburtstag von Nelson Mandela 100. Geburtstag von Nelson Mandela: Was bleibt vom Traum des sanften Revolutionärs?

Halle (Saale) - Wenn die Apartheid fiele, die brutale Diskriminierung, Ausgrenzung und Ausbeutung der farbigen, besonders der schwarzen Südafrikaner durch die selbst ernannten weißen Herren, würde das Land in Chaos und Gewalt versinken, fürchteten politische Auskenner zu Beginn der 1990er Jahre. Damals hatte der südafrikanische Staatspräsident Frederik Willem de Klerk begonnen, das wirtschaftlich stark geschwächte, innen- wie außenpolitisch unter großem Druck stehende Land zu reformieren.
1993 erhielt er gemeinsam mit Nelson Mandela, der 27 Jahre lang eingekerkerten Ikone der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, den Friedensnobelpreis für diese realpolitische Einsicht. Ein Jahr später übernahm Mandela als erster Schwarzer in der Geschichte Südafrikas das Präsidentenamt, das er bis 1999 ausübte.
Ermutigende Erzählung
Was seinerzeit in Südafrika geschah, ist eine der ermutigendsten Erzählungen der jüngeren Zeitgeschichte: Das prognostizierte Inferno ist ausgeblieben, die weitgehend friedliche Ablösung der Apartheid ist dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa, der sich wenige Jahre zuvor vollzogen hatte, mindestens ebenbürtig in seiner Bedeutung.
Die überragende Figur der südafrikanischen Erfolgsgeschichte, die trotz aktuell krisenhafter Entwicklung im Land am Kap nicht an historischer Größe verliert, ist Nelson Mandela. An diesem Mittwoch würde der charismatische Politiker, der am 5. Dezember 2013 in Johannesburg gestorben ist, 100 Jahre alt.
Der Kampf gegen die Diskriminierung von Menschen anderer Hautfarbe, den Nelson Mandela anführte, muss dem früheren US-Präsidenten Barack Obama zufolge weitergehen. Solche Benachteiligung sei sowohl in den USA als auch in Südafrika weiter eine Tatsache, sagte Obama am Dienstag in Johannesburg in einer Rede zu Ehren Mandelas. Es gebe immer noch zu viele Menschen, die sich von Menschen bedroht fühlten, die nicht wie sie selbst aussähen oder sprächen. (dpa)
Aus diesem Anlass sind die Briefe Mandelas, die er aus dem Gefängnis schrieb, weltweit veröffentlicht worden, die deutsche Ausgabe erschien im renommierten Münchner Verlag C. H. Beck. Diese Briefe legen Zeugnis ab von der unbeirrbaren Haltung Mandelas, die sich auf zwei Grundüberzeugungen stützte: Die menschenverachtende Rassentrennung wird keinen Bestand haben. Und der Aufbau einer freien, gerechten Gesellschaft kann nur im Geiste des Friedens und der Aussöhnung gelingen.
Vor Gericht sagte Mandela 1963: „Welches Urteil auch immer Sie über mich fällen, Sie können sicher sein, dass nach der Verbüßung der Strafe mein Abscheu vor der Rassendiskriminierung nicht geringer sein wird und ich den Kampf gegen Ungerechtigkeiten wieder aufnehmen werde, bis sie ein für allemal abgeschafft sind.“
Heute auf Südafrika wie auf Europa blickend, die beide einen Aufbruch sondergleichen erlebt haben und in großen Schwierigkeiten sind, die gewonnene Identität zu erhalten und politisch zu gestalten, mag man resigniert mit den Schultern zucken. Gründe dafür gibt es in der Tat genug. In Südafrika sind die sozialen Widersprüche so krass wie ehedem, vielleicht sogar noch schärfer. Das liegt nicht zuletzt an den
zu großen Teilen tief korrupten schwarzen Eliten. Mandelas politische Erben haben seine Partei, den Afrikanischen Nationalkongress (ANC), damit in schweren Misskredtit gebracht.
In Europa, namentlich auch in Deutschland, gibt es indes keinen Anlass für überhebliche Fingerzeige. Vom Bürgermut der friedlichen Revolution im Herbst 1989 ist vor allem Bürgerwut geblieben, die politische Fantasie und die Träume von damals erschöpfen sich heute in pöbelnden Rufen wie „Merkel muss weg“.
Schwieriger Übergang
Demokratie und friedlicher Übergang in eine engagierte, humanistische Zivilgesellschaft sind offenbar ein schwieriges Geschäft. Aber gerade in Zeiten, da Gewinnstreben, Neid, Fremdenhass und Populismus den Takt vorgeben, kann die Erinnerung an Nelson Mandela, den sanften Revolutionär, hilf- und trostreich sein. Der Mensch, der das Menschliche verteidigt, hat mindestens ebenso viel Kraft wie jene anderen, denen dieses kein Wert mehr zu sein scheint.
„Wie dunkel und schwer die Zeiten im Augenblick auch sein mögen, so bin ich doch zuversichtlich, dass Du eines Tages wieder freikommst, die schönen Vögel und lieblichen Felder unserer Heimat sehen ... wirst“, schrieb Mandela am 16. November 1969 aus dem Gefängnis an seine gleichfalls inhaftierte Ehefrau Winnie: „Ich vermisse Dich schrecklich! Alles erdenklich Liebe und tausend Küsse, für immer Dein Dalibunga.“
Auch, wenn es schwierig ist in Zeiten von Trump, Putin, Erdogan, Kim und Orban an eine gute Zukunft zu glauben - Nelson Mandela hat mit seinem Leben dafür eingestanden, dass man die Dinge zum Besseren verändern kann. Mit Konsequenz und Liebe. Dieses Wissen wiegen auch gesellschaftliche Rückschritte nicht auf. Es sei denn, man vergisst. (mz)
Nelson Mandela: Briefe aus dem Gefängnis, C. H. Beck, München, 760 Seiten, 28 Euro