Nachschlag benötigt Nachschlag benötigt: Darum will Abellio will 100 Millionen Euro vom Land Sachsen-Anhalt

Magdeburg - Es ist fast zwei Jahre her, da musste die Abellio-Geschäftsführung im Verkehrsausschuss des Landtages antreten. Im Januar vorigen Jahres musste die Spitze des privaten Zugbetreibers vor den Abgeordneten die Personalmisere erklären.
Gerade erst hatte Abellio 900 Kilometer zusätzlicher Strecken in Sachsen-Anhalt übernommen, schon fielen wegen fehlender Lokführer über Wochen reihenweise Züge aus. Einer, der seinerzeit dabei war, sagt heute: „Ich hatte schon da den Eindruck, dass die zu optimistisch sind.“ Wir kriegen das in den Griff, das sei die Botschaft gewesen.
Nachfragestarke Strecken
Nun stellt sich heraus: Die Probleme sind noch viel größer als damals. Dieser Tage hat Abellio vom Land einen kräftigen finanziellen Nachschlag gefordert, um den Zugverkehr auf seinen Linien weiter aufrechterhalten zu können - rund zehn Millionen Euro pro Jahr. Abellio, eine Tochter der niederländischen Staatsbahnen, betreibt etwa die Hälfte des Schienennetzes im Land.
Darunter fallen nachfragestarke Pendlerstrecken wie Halle-Erfurt, Halle-Halberstadt oder Magdeburg-Wolfsburg. Das Unternehmen hatte in Vergabeverfahren für zwei große Netze den Zuschlag erhalten. Die Betreiberverträge laufen bis Ende 2030 beziehungsweise bis Ende 2032. Damit verlangt Abellio unterm Strich über 100 Millionen Euro mehr als vertraglich vereinbart. Zunächst hatte die „Volksstimme“ darüber berichtet.
Hat Abellio sich verkalkuliert? Sprecher Matthias Neumann sagte der MZ am Mittwoch: „Was wir damals kalkuliert haben, ist jetzt nicht mehr auskömmlich.“ Das größte Problem sind offenbar gestiegene Personalkosten. Eine große Rolle spielen dabei die Tarifverträge: Sie erlauben in der Regel entweder Lohnsteigerungen oder mehr Urlaub. Weil viele Beschäftigte sich für Letzteres entscheiden, wächst der Personalbedarf. Doch der Markt für Lokführer ist seit Jahren leergefegt. Nicht nur Abellio steht vor diesem Problem, auch andere Betreiber. Abellio hatte Anfang 2017 damit begonnen, Seiteneinsteiger zu Fachkräften auszubilden - auch das drückt auf die Kosten.
Das Unternehmen teilte mit, man wolle in Gesprächen mit dem Land „ein realistischeres Abbild“ bei den gestiegenen Personalkosten herstellen. Zudem sucht Abellio nach MZ-Informationen auch selbst nach Einsparmöglichkeiten. Demnach wird erwogen, die für einzelne Regionen gegründeten Töchter, auch die für Mitteldeutschland, in einer bundesweiten Firma zusammenzuführen. Abellio betreibt auch Züge in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Die Länder als Vertragspartner müssten dem aber zustimmen.
Zwei Szenarien denkbar
Ob das Verkehrsministerium auf die Forderung nach einem Nachschlag eingeht, ist noch unklar. Unter Fachpolitikern herrscht Verunsicherung: „Wir wissen nicht, welche strategischen Interessen Abellio verfolgt. Ob sie bessere Vertragskonditionen heraushandeln oder sich auf diese Weise aus dem Markt verabschieden wollen“, sagt einer. Denkbar sind zwei Szenarien: Bei Szenario eins gewährt das Land keinen Nachschlag und beharrt auf den bestehenden Verträgen. Für diesen Fall schließen Experten eine Insolvenz von Abellio nicht aus. Als Folge müsste das Land den Zugverkehr selbst übernehmen oder kurzfristig an einen anderen Betreiber übergeben. Dafür käme wohl nur die Deutsche Bahn in Frage, andere sind nicht in Sicht.
Oder Szenario zwei: Das Land erfüllt die Forderungen von Abellio. In diesem Fall halten Fachleute es für denkbar, dass die Bahn, die in zwei Vergabeverfahren gegen Abellio unterlegen war, im Nachhinein klagt. Vor einer Entscheidung sind komplexe vertrags- und vergaberechtliche Fragen zu klären. Der Finanzausschuss des Landtages gab am Mittwoch bis zu 250.000 Euro frei für eine entsprechende Rechtsberatung im Verkehrsministerium. (mz)