Wertbegriffe Wertbegriffe: Nicht jeder in Europa meint dasselbe

Jena/Halle/dpa. - Trotz jahrzehntelanger europäischer Einigungreden die Europäer bei zentralen Grundwerten häufig aneinandervorbei. «Wenn zwei Europäer "Gerechtigkeit" sagen, meinen sie nicht immer dasselbe», sagte die Indogermanistin Rosemarie Lühr am Mittwoch in Jena. Anders als in Deutschland beziehe sich in Großbritannien dieser Begriff nur auf die Justiz, nicht auf soziale Gerechtigkeit.Der Soziologe Hartmut Rosa erwartet, dass sich die Bedeutungen in Zukunft über die Ländergrenzen hinweg stärker angleichen.
Innerhalb von dreieinhalb Jahren haben Soziologen, Linguisten und Philosophen der Universitäten Jena und Halle-Wittenberg 18 solcher Wertbegriffe und ihren Gebrauch in zehn ost- und westeuropäischenSprachen untersucht. Dabei verfolgten sie ihre Wortgeschichte bis indie Antike zurück und suchten nach Bedeutungsunterschieden bis in dieGegenwart. «Es ist erstaunlich, wie viel platonisches Gedankengut inihnen noch heute fortlebt», konstatierte Lühr. Zugleich beobachtetendie Wissenschaftler, dass diese Begriffe seit dem 19. Jahrhundertunschärfer wurden. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung werden vondiesem Donnerstag an auf einer Fachtagung in Jena vorgestellt undsollen auch über eine Datenbank im Internet verfügbar sein.
Soziologe Rosa nannte drei Ursachen für die Vielstimmigkeit. Zumeinen unterschiedliche nationalgeschichtliche Erfahrungen, dieBegriffe wie Freiheit und Gleichheit prägen. Zum anderen verschiedenepolitische Standpunkte über Ländergrenzen hinweg. So werde nachlinker Lesart unter Solidarität die Pflicht der Gesellschaftverstanden, dem Einzelnen zu helfen. «Im rechtskonservativen Denkenist Solidarität dagegen etwas, was der Einzelne für das Gemeinwesenzu erbringen hat, etwa bei der Landesverteidigung oder dem Zahlen vonSteuern.» Zudem gebe es zeitgeschichtliche Einflüsse auf dieBedeutung dieser Begriffe. Seit Mitte der 1980er Jahre sei einezunehmend neoliberale Deutung zu beobachten.
Zu den Unterschieden, die die Forscher beobachtet haben, gehörtauch, dass in Russland der Begriff Demokratie anders als im Westenstärker negativ besetzt ist. Aus den Erfahrungen des politischenUmbruchs würden stärker Missstände wie Korruption damit verbunden.
Inwieweit es in Zukunft eine Vereinheitlichung der Wertbegriffezwischen Ost- und Westeuropa geben wird, hänge daher stark von derErfolgsgeschichte typisch westlicher Institutionen wie Demokratie undsozialer Marktwirtschaft in den osteuropäischen Ländern ab, erklärteSoziologe Jörg Oberthür. Professor Rosa ist überzeugt, dass es überdie Ländergrenzen hinweg zwar eine Angleichung geben wird. Dochkönnten auch stärker Unterschiede zwischen den jeweiligen politischenMilieus hervortreten.