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Türkei-Experte Kristian Brakel Türkei-Experte Kristian Brakel: "Ganz klar: Die Angst ist da"

Von Tobias Peter 29.06.2016, 15:29
Kristian Brakel
Kristian Brakel Heinrich-Böll-Stiftung/Stephan Röll

Herr Brakel, die Terrorabwehr der Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat sich erneut als erfolglos erwiesen. Wächst jetzt der gesellschaftliche Druck auf ihn, etwas zu ändern?

Prinzipiell wächst der Druck auf die Regierung, sich außenpolitisch neu zu positionieren – und zwar vor allem aus der Wirtschaft. Das hat insbesondere mit dem Einbruch des Tourismus zu tun. Das Geheimnis, warum Erdogan und die AKP sich so lange an der Macht halten können, ist, dass sie über viele Jahre gute Wirtschaftsdaten präsentieren konnten. Die AKP lebt von diesem Wohlstandsversprechen: „Wenn ihr uns wählt, wird die Wirtschaft weiter wachsen.“

Was erwarten Vertreter der Wirtschaft, aber auch andere Menschen in der Türkei jetzt also von der Regierung?

Von der Regierung wird ein Signal erwartet, dass sie entschieden gegen den Islamischen Staat vorgeht. Die bisherige, offiziell verlautbarte türkische Regierungshaltung war immer: „Wir sind gegen jeden Terrorismus.“ Das ist der Versuch, den Terrorismus vom Islamischen Staat mit dem der PKK zu vermischen. Dieser Ansatz hat bisher auch bei vielen Anhängern der Regierung verfangen, die gesagt haben: „Die stecken doch alle unter einer Decke.“ Es ist jetzt aber auch aktuell nicht so, dass es in der Gesellschaft eine breite Debatte über konkrete Maßnahmen gäbe. Die Menschen wollen ein Signal, die Einzelheiten verfolgen viele aber nicht so intensiv.

Erdogan hat Anfang der Woche die Familie des Piloten für den Abschuss eines russischen Kampfjets um Verzeihung gebeten. Zugleich wurden wieder diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Hat die Veränderung der Außenpolitik schon längst begonnen?

Diese ungewöhnlichen Versöhnungsgesten sind in der Tat vor dem Hintergrund zu sehen, dass beide Länder wirtschaftlich für die Türkei wichtig sind, nicht zuletzt wegen des Handels mit Gas. Das ist ein Schritt hin zu einer rationaleren Außenpolitik. Vorher hat die türkische Regierung sowohl gegenüber dem russischen Präsidenten Putin als auch dem israelischen Premier Netanjahu eine ideologisch stark aufgeladene Rhetorik benutzt, die von beiden Seiten erwidert wurde.

Aus dem Ausland gibt es immer wieder Vorwürfe, Erdogan habe den IS selbst gestärkt oder aber zumindest zu wenig bekämpft, während der Kampf gegen die kurdische PKK mit allen Mitteln geführt wurde. Wird diese Debatte auch in der Türkei geführt?

Ja, diese Debatte gibt es. Aber es gibt sie natürlich nicht so stark unter AKP-Anhängern, sondern vor allem in einem kleinen Teil der Opposition, der relativ links orientiert ist. Viele andere Teile der Opposition sind selbst nationalistisch – und das Aufblähen der PKK zum größeren Feind ist das, was auch sie selbst jederzeit sagen würden.

Es ist also nicht zu erwarten, dass jetzt gesellschaftlicher Druck entsteht, die Versöhnung mit den Kurden zu suchen, um sich dann auf den Kampf gegen den IS zu konzentrieren.

Das wäre das Rationalste, was man machen könnte. Aber ich sehe das im Moment nicht.

Die Außenpolitik ist das eine, das Alltagsleben der Menschen das andere. Welche Auswirkungen hat der Terror in der Türkei darauf?

Es gibt diesen Effekt, dass Menschen in der U-Bahn noch zweimal hinter sich schauen, wer da eigentlich mit ihnen einsteigt. Andererseits wissen viele Türken, dass sie nur bedingt etwas daran ändern können, dass sie einer Gefahr ausgesetzt sind. Und auch, dass die Wahrscheinlichkeit von einem Anschlag getroffen zu werden, insgesamt noch immer gering ist. Ganz klar: Die Angst ist da, aber man schiebt sie auch wieder in den Hintergrund. Wenn Sie sich die ganze Zeit damit befassen, werden Sie ja leicht wahnsinnig.