Russland Russland: 116 Geiseln sterben bei Sturm auf «Nord-Ost»-Theater

Moskau/MZ. - Auch am Tag danach ist Moskau im Ausnahmezustand.Verhaftungen laufen auf Hochtouren, in Tschetschenienbegannen russische Einheiten mit "Säuberungen".Der Krieg geht in die nächste Runde. So berechtigtdie Forderungen der Geiselnehmer nach einemEnde des Krieges gewesen sein mögen, so entschlossenwar Präsident Wladimir Putin, sich seine Politiknicht durch Gewalt diktieren zu lassen. VieleIndizien sprechen dafür, dass die Erstürmungvon den ersten Stunden der Geiselnahme anbeschlossene Sache war. Quellen der Tageszeitung"Moskowsij Komsomolez" zufolge rechnete derGeheimdienst FSB dabei mit 150 toten Geiseln.In der Nacht zum Freitag probten die Anti-Terror-KommandosAlfa und Vimpel den Sturmangriff am TheaterMeridian im Moskauer Südwesten.
Gleichwohl glaubten noch am Freitag viele,das Ende der Geiselnahme sei Tage entfernt.Zwar hatten die Tschetschenen gedroht, amSamstagmorgen mit Geisel-Erschießungen zubeginnen. Doch selbst Experten bezweifelten,dass die Separatisten ihre Drohung wahr machenwürden. "Sie wissen, dass sie den Dienstendamit freie Hand zum Sturm geben", sagte etwaNikolai Lenow, Ex-Chef der Analyseabteilungdes KGB. Unter den Geiseln hatten viele mitihrem Leben abgeschlossen. Das Gebäude warmit über 30 Sprengsätzen vermint. Währenddie dreißig Männer unter den Geiselnehmernsich im Gebäude verteilten, bewachten dieFrauen die Geiseln. Manchmal spielten dieGeiselnehmer tschetschenische Musikkassettenab. Olga Tschernjak von der Agentur Interfaxdufte ihren Platz im Parterre nur zur Toilettenpauseverlassen. Dann bildete sich eine Schlangevor dem zur Toilette umfunktionierten Orchestergraben.
Nachts schliefen die Tschetscheninnen im Publikum,die Finger auf dem Sprengkopf. "Wir sind hierhergekommen, um zu sterben und zu Allah zu gelangen- und ihr werdet uns begleiten", erinnertTschernjak eine Drohung. "Wir verstanden,dass sie uns nicht lebend rauslassen würden."Kurz nach Mitternacht verlor eine junge Geiseldie Nerven. "Sie ergriffen ihn und schossenihm ins Auge", schilderte Olga Tschernjak.
Die Erstürmung war da schon befohlen. Aufder zum Theater führenden Melnikowa-Straßewurden Journalisten Zeuge unwirklicher Szenen.Alfa-Einheiten warteten in Lastwagen auf denAngriffsbefehl. Um vier Uhr morgens rücktendie schwarz gekleidete Spezial-Truppen zumAngriff vor. Um halb sechs Uhr ließen dieEinsatzkräfte Betäubungsgas in den Zuschauerraumund sprengten sich den Weg frei. Im Theaterwaren die Geiseln ebenso wie die sprengstoffbepacktenTschetscheninnen bereits ohnmächtig. "Wirschossen ihnen aus nächster Nähe in die Schläfen",beschreibt ein Alfa-Offizier. "Es war grausam,aber da an ihnen zwei Kilo Plastiksprengstoffhingen, sahen wir keine Alternative." Wärendie Sprengsätze explodiert, hätten sie wahrscheinlichdas gesamte Gebäude einstürzen lassen.
Doch längst nicht alles lief nach Plan. Ananderer Stelle des Gebäudes entdeckten Geiselnehmerdie vorrückenden Alfa-Einheiten und liefertenihnen heftige Gefechte. Entgegen offiziellenBehauptungen wurden russischen Medien zufolgeauch Offiziere des Sonderkommandos erschossen.Die Elitesoldaten töteten ihrerseits nichtnur 50 Geiselnehmer, sondern auch viele derer,die sie retten sollten. "Wir konnten keinenUnterschied zwischen Geiseln und Geiselnehmernerkennen", sagt der Alfa-Offizier.
Andere Geiseln sterben nicht durch die Kugelnder Befreier, sondern durch das verwendeteBetäubungsgas (siehe "Geheimes Nervengift").Als der Sturmangriff kurz nach sieben Uhrbeendet ist, tragen die Sturmtruppen nichtnur Ohnmächtige, sondern auch Dutzende Sterbendevor den Haupteingang, wo im fahlen Morgengrauenlange Reihen von Krankenwagen und Bussen warten.Ein Eisregen geht über Moskau nieder.