Ostbeauftragter Christian Hirte Ostbeauftragter Christian Hirte: "Wir sind dem Westen 30 Jahre voraus"

Neröom - Christian Hirte (CDU) ist der Ostbeauftragte der Bundesregierung und gleichzeitig parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Der 42-Jährige spricht im Interview mit Markus Decker über die Landtagswahlen in den neuen Ländern und darüber, was Ost und West noch trennt.
Herr Hirte, Ostdeutschland steht wegen der bevorstehenden Landtagswahlen im Fokus wie noch nie. Wir werden mit Ostpapieren geradezu überschwemmt. Und auch die Kanzlerin räumt plötzlich ein, dass es nicht zum Besten stehe. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Christian Hirte: Unter dem Strich ist das eher eine positive Entwicklung. Es hilft, die besonderen Probleme in den Blick zu nehmen
Würden Sie denn der These zustimmen, dass sich die Zukunft Deutschlands im Osten entscheidet – insbesondere mit Blick auf die AfD?
Ich vertrete ohnehin die These, dass vieles von dem, was wir in den neuen Bundesländern erleben, nur ein Vorspiel gesamtdeutscher Phänomene ist. Wir sind dem Westen 30 Jahre voraus – bei der Demografie oder bei gesellschaftlichen Prozessen wie in Kirchen, Gewerkschaften und Vereinen, bei denen wir sehen, dass die Bindekraft nachlässt. Die Vereinzelung ist stärker voran geschritten und auch die politische Bindung weniger stark als in den alten Bundesländern.
„Die behaglichen Zeiten sind vorbei“
Was folgt daraus?
Wir müssen nicht gleich das Ende der Demokratie heraufbeschwören, wir sind nicht in einer Situation wie in den 1930er-Jahren. Aber wir müssen jetzt entscheiden, wie wir auf die Fliehkräfte reagieren. So hat etwa die Aggressivität der Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links ein Niveau erreicht, wie wir es seit Jahrzehnten nicht mehr kannten. Auch die alte Bundesrepublik kannte natürlich heftige politische Auseinandersetzungen, etwa um die Ostpolitik oder die Nachrüstung. Aber all das ist eben sehr lang her. Auch darum schaut die ganze Republik jetzt nach Osten. Alle wissen: Die Zeiten der behaglichen Komfortzone der Bonner Republik sind vorbei.
Es gibt einige konkrete Ost-West-Probleme. Eines betrifft die Zahl der Bundesbehörden. Da liegt der Osten immer noch weit zurück. Wie wollen Sie das ändern?
Gleich nach der Wiedervereinigung hat sich eine Föderalismus-Kommission mit der Verwaltungsstruktur in Deutschland beschäftigt und Empfehlungen ausgesprochen, die vom Bundestag 1992 gebilligt wurden. Da ging es um die Frage, wie man Behörden in Deutschland verteilt. Daraufhin wurden sie teilweise verlagert. Das Bundesarbeitsgericht kam zum Beispiel nach Erfurt. Es wurde so ziemlich alles, was damals beschlossen wurde, auch umgesetzt.
Aber genau an einer Stelle hat man nicht geliefert: „Neue Bundeseinrichtungen sind grundsätzlich in den Neuen Bundesländern anzusiedeln“. Man wollte allmählich auf ein gleiches Beschäftigungsniveau kommen. Denn das haben wir noch lange nicht erreicht. Wir haben 2,3 Bundesbeschäftigte pro 1000 Einwohner in Deutschland insgesamt. In Sachsen jedoch sind wir nur bei 0,9 und in meiner Heimat Thüringen bei 0,7. Da wurden die Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht.
Was schlagen Sie vor?
Ich fordere Regierung und Parlament auf, an der ungleichen Verteilung von Bundesbehörden etwas zu ändern. Zuletzt sind wir schon ein paar Schritte gegangen. Das Fernstraßenbundesamt kommt nach Sachsen, das Kompetenzzentrum Wald und Holz nach Mecklenburg-Vorpommern und jetzt ganz frisch die Agentur für Innovationen bei der Cybersicherheit nach Sachsen und Sachsen-Anhalt. Nur dürfen wir dabei nicht stehen bleiben. Horst Seehofer hat als Ministerpräsident von Bayern in vorbildlicher Art und Weise Behörden in die Fläche verlagert. Entsprechende Erwartungen habe ich auch an meine Regierungskollegen.
„Wir brauchen den ernsthaften Willen Aller“
Läge es nicht nahe, das gesetzlich zu regeln, bis ein Gleichstand erreicht ist?
Aus meiner Sicht brauchen wir nicht zwingend ein entsprechendes Gesetz. Ich denke, ein formalisiertes Verfahren auf Bundesebene würde uns schon helfen. Bislang entscheidet jedes Ministerium mehr oder weniger in Eigenregie darüber, wo Behörden im eigenen Geschäftsbereich angesiedelt werden. Bei der Erfahrung, ob und wie ich als Ostbeauftragter bei der Standortsuche von den jeweiligen Ministerien beteiligt werde, bin ich nach knapp einem Jahr im Amt etwas ernüchtert. Wir brauchen Augenmaß, es muss nicht zwingend alles in den Osten. Eine deutsch-französische Einrichtung nach Cottbus zu verlagern, das wäre vielleicht nicht richtig. Aber wir brauchen den ernsthaften Willen Aller, die ungleiche Verteilung sukzessive abzubauen.
Ein weiteres Problem sind die Eliten. Noch immer kommen die 25 Präsidenten der obersten ostdeutschen Gerichte aus dem Westen. Finden Sie das hinnehmbar?
Vielleicht gehören beide Themen zusammen. Denn wenn nach einem Behördenstandort gesucht wird, dann sitzen eben fast nur Leute beisammen, die aus dem Westen kommen, die kommen gar nicht auf die Idee, was es für hervorragende Standorte jenseits der Elbe geben könnte. Und wenn es dann doch der Osten sein soll, dann fällt ihnen nicht viel mehr als Leipzig ein, weil sie mehr auch nicht kennen. Von Leipzig haben sie mal in der Schule bei Goethe oder Bach gehört. Bis Anklam sind die beiden leider nie gekommen.
Kritik an westdeutscher Unkenntnis
Was bedeutet das für die West-Dominanz an den Ost-Gerichten?
Aktuell ist das noch akzeptabel. Denn es hat ja Gründe. Als die Justiz nach 1990 in Ostdeutschland neu aufgebaut wurde, gab es keine Ostdeutschen mit einer entsprechenden Qualifikation. Wir werden aber in den nächsten zehn Jahren 60 Prozent der Richter und Staatsanwälte in die Pensionierung gehen sehen. Da muss der große Umschwung kommen. Da wird man auch entsprechend sensibilisiert sein, die eigenen Landeskinder zu berücksichtigen. Allerdings würde ich mich mit einer Quote schwer tun. Das fängt schon bei der Frage an, wer eigentlich Ostdeutscher ist. Das lässt sich kaum noch eindeutig beantworten.
Ein letztes Feld des Unbehagens ist das mentale. Plötzlich stehen „Besserwessis“ und „Jammerossis“ wieder gegeneinander. Wie erklären Sie sich das?
In der Tat, die Debatte war völlig weg, bis sie jetzt auf einmal wieder hochkam – besonders ausgelöst durch die AfD. Dass dabei auch unser Koalitionspartner in den Jammer-Duktus einfällt, kann ich politisch nicht nachvollziehen. Wir haben mehr Anlass, mit Stolz auf das Erreichte und mit Optimismus in die Zukunft zu blicken, als auf die Dinge zu schauen, die eben nicht hervorragend funktioniert haben.
Natürlich gab es politische und wirtschaftliche Unfälle auf dem Weg nach 1990, gerade wenn man sich die Treuhand anschaut. Aber unter dem Strich muss man doch sagen, dass wir eine tolle Entwicklung hatten. Jeder, der rumjammert, der soll sich mal in Osteuropa umsehen oder überlegen, wo wir ohne Mauerfall und Einheit stehen würden.
Das heißt, Sie raten dazu, mental abzurüsten und nicht wieder in die alten Reflexe zu verfallen?
Ja, denn alles andere wäre für die Zukunft genau der falsche Ansatz. Wir sind heute in Ostdeutschland auf einem Niveau wie weite Teile Frankreichs oder Großbritanniens. Das hat sich vor 30 Jahren in der DDR niemand vorstellen können.