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MZ-Interview MZ-Interview: «Ein Armutszeugnis»

16.06.2011, 17:01
Professor Ulrich Battis leitet das Institut für Deutsches und Internationales Baurecht an der Humboldt-Universität in Berlin. (FOTO: DPA)
Professor Ulrich Battis leitet das Institut für Deutsches und Internationales Baurecht an der Humboldt-Universität in Berlin. (FOTO: DPA) dpa

BERLIN/MZ. - Eine verfassungskonforme Lösung für eine Wahlrechtsreform hätte eslängst geben können, meint Ulrich Battis. Mit dem Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Humboldt-Universität Berlin sprach unser Korrespondent Stefan Sauer.

Herr Professor Battis, die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte dreijährige Frist für eine Wahlrechtsreform läuft am 30. Juni aus, und es liegt bisher nicht einmal ein Reformentwurf vor. Wie beurteilen Sie das?

Battis: Das ist eine klare Missachtung des höchsten deutschen Gerichts. Immerhin hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber ausreichend Zeit eingeräumt, das Problem des negativen Stimmgewichts zu beseitigen und die damit verknüpfte Regelung der Überhangsmandate zu überarbeiten. Dass man das nicht hinbekommen hat, ist schon ein Armutszeugnis. Von einer Staatskrise würde ich aber nicht sprechen. Das ist mir eine Nummer zu groß.

Ist es denn so schwierig, eine Wahlrechtsreform hinzubekommen?

Battis: Nein, technisch und inhaltlich betrachtet hätte man längst eine verfassungskonforme Lösung präsentieren können. Aber politisch gesehen ist das Wahlrecht im Kern eine Machtfrage.Von den Überhangmandaten profitieren die großen Parteien, die Kleinen nicht, die einen wollen sie erhalten, die anderen abschaffen. Es geht um Macht. So einfach ist das.

Wie könnte eine Reform Ihrer Ansicht nach aussehen, die allen Belangen Rechnung trägt, die in diesem Sinne gerecht wäre?

Battis: Ein vollkommen gerechtes Wahlsystem gibt es nicht. Egal wie man es konstruiert, finden sichimmer welche, die weitgehend unabhängig vom Wählerwillen vom Wahlrecht profitieren, und andere, die Nachteile in kauf nehmen müssen.Das trifft besonders auf das reine Mehrheitswahlrecht in Großbritannien zu, wo kleinere Parteien praktisch keine Chance haben unddie Partei mit den meisten Stimmen eine Wahl trotzdem verlieren kann. Dem Kriegspremier Winston Churchill ist das 1945 passiert: Seine Konservativen hatten mehr Stimmen erhalten als Labour, aber Labour hatte mehr Wahlkreise gewonnen und Churchill musste abtreten. Eine vollständige, absolut gleichwertige und insofern gerechte Abbildung des Volkswillens erhielte man nur dann, wenn alle Wähler auch im Parlament säßen. Und das wäre erkennbar Unsinn.

Wird Karlsruhe der Politik ein neues Wahlrecht verordnen?

Battis: Wenn nach Ablauf der Frist ein Antrag beim Verfassungsgericht eingeht, wäre dies theoretisch möglich. Ich glaube aber nicht, dass sich die Richter darum reißen werden. Die Wahlrechtsreform ist Aufgabe des Parlaments, und ich denke, die werden das auch hinbekommen.

Welches Modell würden Sie denn bevorzugen?

Battis: Ich denke, man kann dieÜberhangmandate beibehalten, wenn gleichzeitig die anderen Parteien Ausgleichsmandate dafür zugesprochen bekommen. Damit würden alle direkt gewählten Kandidaten im Bundestag sitzen, zugleich wären die kleineren Parteien proportional angemessen im Parlament vertreten. Dadurch würde der Bundestag um ein paar Sitze größer, aber das wäre zu verkraften.