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MZ im Gespräch mit Rüdiger Pohl MZ im Gespräch mit Rüdiger Pohl: «Unsere Besitzstände bröckeln»

20.10.2002, 16:18

Halle/MZ. - Die rot-grüne Koalition hat sich auf weitere vier Jahre Zusammenarbeit geeinigt. Unser Redakteur Gunnar Hinck sprach mit dem Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, Rüdiger Pohl, über das 88-seitige Papier - und über das allgemeine Klagen, dass Deutschland nicht reformfähig sei.

Von vielen Seiten wird der Koalitionsvertrag als halbherzig kritisiert. Gibt es auch Positives?

Pohl: Na ja, zum Beispiel finde ich es sinnvoll, dass man das Hartz-Papier mit den Personalservice-Agenturen und den geänderten Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose umsetzt. Ich finde auch richtig, dass es in einem Land, in dem es keine Wohnungsnot mehr gibt, die Eigenheim-Förderung reduziert wird.

Aber diese Maßnahme wird die Bauwirtschaft im Osten treffen.

Pohl: Richtig, aber es gibt dazu keine Alternative angesichts des Leerstands. Gesamtwirtschaftlich gesehen macht es mehr Sinn, das frei werdende Geld in andere Investionen zu lenken.

Als Befürworter einer abgesenkten Staatsquote und eines flexibilisierten Arbeitsmarktes dürfte ihr Gesamturteil über den Koalitionsvertrag negativ ausfallen . . .

Pohl: Ja, denn der Punkt ist, dass insgesamt eine Erhöhung der Abgabenlast herauskommt. Die steuerlichen Maßnahmen werden den Verbraucher mehr kosten. Auch als Arbeitnehmer werden wir mehr belastet. Und das, was Rot-Grün als größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bundesrepublik feiert, ist, wenn Sie so wollen, Marketing. In Wirklichkeit findet keine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes statt. Die Regulierungsdichte bleibt erhalten, die Durchforstung der Arbeitsmarktregelung findet nicht statt.

Ist der Koalitionsvertrag ein gutes Papier für den Osten?

Pohl: Da halte ich zwei Punkte für bedenklich. Das eine ist, dass man die Investitionszulagen - die ja 2005 eigentlich auslaufen sollten - durch eine Nachfolgeregelung fortschreiben will. Wir wissen aus den letzten Jahren, dass diese Zulagen erhebliche Mitnahme-Effekte bringen: Unternehmen bekommen diese Zulage, obwohl sie sie gar nicht brauchen. Wir haben immer dafür plädiert, sie nicht zu erneuern, sondern durch regionale Investitionszuschüsse zu ersetzen und im Einzelfall zu prüfen, ob die Investition etwas bringt für die Region. Zum anderen wird die Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst bis 2007 auf Westniveau nur möglich sein mit einem kräftigen Personalabbau. Außerdem erzeugt sie einen erheblichen Anpassungsdruck auf die private Wirtschaft - Unternehmen werden damit unter erheblichen Kostendruck geraten.

Sie beklagen den Reformstau. SPD und Grüne kündigten aber bereits in ihren Wahlprogrammen an, dass sie keine radikalen Reformen wollen - und sie wurden demokratisch gewählt.

Pohl: Das ist so. Die Wähler scheuen Reformen. Und ich weiß nicht, ob die Opposition, wenn sie die Wahl gewonnen hätte, wirklich etwas grundsätzlich anderes gemacht hätte. Da war Reformfreudigkeit auch nicht zu erkennen - und das ist unser generelles Problem. Wir alle fühlen uns ganz wohl, weil es uns eigentlich noch gut geht. Aber viele Menschen unterschätzen, wie bedroht unser Wohlstandsniveau ist.

Traut die Politik den Wählern zu wenig zu oder drückt sie durch ihre Zögerlichkeit schlicht die Ängste der Deutschen aus?

Pohl: Natürlich fragt sich ein Politiker, wie er wiedergewählt werden kann in vier Jahren. Aber eigentlich sollte Politik ja führen, sollte werben auch für unpopuläre Gedanken.

Ich verstehe Politik nicht so, dass per Umfrage geguckt wird, wo die jeweilige Mehrheit ist, und dementsprechend wird sie umgesetzt. Das ist nicht mein Bild von Politik. Das schafft jedenfalls keine Zukunftsfähigkeit. Das verwaltet das Land. Aber es löst die Probleme nicht. Wenn die Politik jedoch einmal etwas anderes macht, dann hagelt es von allen Seiten Proteste. Aber keiner diskutiert die Frage, welche Alternativen es denn gibt.

Ist es nicht verständlich, dass die Wähler Reformen - etwa auf dem Arbeitsmarkt - zwar nachvollziehen können, diese ihnen aber auch Angst machen?

Pohl: Wir haben es da mit verzerrten Wahrnehmungen zu tun. Wenn jemand sagt, ich mache Reformen am Arbeitsmarkt, ist die Reaktion meist: Der will die Rechte der Arbeitnehmer kürzen. Es ist dann immer die Rede von sozialer Kälte. Es wird dann aber verkannt, dass neue Strukturen geschaffen werden, die gerade mehr Arbeitsplätze schaffen könnten. Das ist schwer zu vermitteln. Dabei führt die Politik, die wir machen, zu Massenarbeitslosigkeit - und das in Westdeutschland schon seit über 25 Jahren. Wir erzeugen nachhaltige Wachstumsschwäche, nachhaltige Arbeitslosigkeit und nachhaltige Krisen der Staatsfinanzen. Wir klammern uns an unsere Besitzstände und merken gar nicht, dass die bröckeln.

Oftmals wird beklagt, dass es zu wenig Wirtschaftskompetenz in den Parteien gibt. Nutzt die Politik das Wissen von Wirtschaftsinstituten - wie etwa Ihrem - zu wenig?

Pohl: Nein, wir können ja auch gar nicht erwarten, dass unsere Vorschläge eins zu eins umgesetzt werden. Das wäre naiv. Wir sind Teil einer breiten öffentlichen Diskussion. Aber es gibt auch Erfolge: Vor fünf Jahren hätte kaum jemand geglaubt, dass ausgerechnet eine rot-grüne Regierung den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent senkt. Das war eine Maßnahme, die wir stets für sinnvoll hielten.