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Reformen auf dem Prüfstand Martin Schulz will Agenda 2010 korrigieren

Von Stefan Sauer 21.02.2017, 17:19
Symbolbild.
Symbolbild. Zentralbild

Berlin - SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will einige Reformen der Agenda 2010 zurücknehmen oder zumindest abschwächen. In den vergangenen Tagen kündigte Schulz längere Bezugszeiten des Arbeitslosengeldes für ältere Erwerbslose sowie das Ende für sachgrundlose Befristungen von Arbeitsverträgen an. Die SPD habe seinerzeit Fehler gemacht, diese aber erkannt und sei nun bereit, sie zu korrigieren, so Schulz.

Sind diese Annahmen belegbar?

Zur Erinnerung: Nach der Jahrtausendwende präsentierte sich der deutsche Arbeitsmarkt in sehr schlechter Verfassung. Die Arbeitslosigkeit war nach 1990 stetig gestiegen und hatte Anfang 2005 eine Zahl von mehr als fünf Millionen erreicht. Die sozialen Sicherungssysteme kamen in Bedrängnis. Hohen Ausgaben auf der einen standen stagnierende Beitragseingänge auf der anderen Seite gegenüber. 2005 lag der Rentenbeitragssatz bei 19,9 Prozent, der der Arbeitslosenversicherung bei 6,5 Prozent. Es schien fast unausweichlich, dass Arbeit immer kostspieliger werden würde und so das Entstehen neuer Arbeitsplätze immer unwahrscheinlicher erschien.

Ein Teufelskreis, dem die Regierung Schröder durch eine umfassende Liberalisierung des Arbeitsmarkts und deutlich höheren Druck auf Arbeitslose zu entkommen trachtete. Leiharbeit wurde dereguliert, Minijobs und Arbeitsvertragsbefristungen wurden ausgeweitet. Die Bundesregierung legte Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV zusammen, verschärfte Sanktionen für Arbeitslose und kappte die Möglichkeiten zur Frühverrentung.

Was haben diese Reformen gebracht?

Arbeitsmarktforscher kommen zu einem differenzierten Urteil. „Der Aufschwung am Arbeitsmarkt ist sicher nicht allein auf die Agenda 2010 zurück zu führen, aber sie hat einen deutlichen Anteil“, sagt Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Aber gilt das auch für die von Schulz angesprochenen Themen?
Um den bis dahin anhaltenden Trend zur Frühverrentung zu stoppen, hatte die Regierung Schröder unter anderem die Bezugsdauer des hohen Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitslose gekürzt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollten sich nicht länger auf Kosten der Arbeitslosenversicherung und der Rentenkassen auf einen frühzeitigen Ruhestand verständigen können. In der Tat nahm die Beteiligung älterer Menschen am Arbeitsleben seither stark zu.

Der Anteil unter den 60- bis 65-Jährigen mit einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz stieg nach Daten der Bundesagentur für Arbeit von 12,9 Prozent im Jahr 2002 auf 35,9 Prozent 2015. Die Erwerbsbeteiligung, die auch andere Formen bezahlter Tätigkeiten einschließt, wuchs von 31,6 Prozent 2005 auf 56 Prozent zehn Jahre später und liegt mittlerweile weit über dem europäischen Durchschnitt. Ausschlaggebend für diese Entwicklungen waren laut Weber aber zwei Agenda-unabhängige Entwicklungen: die stark gewachsene Erwerbsbeteiligung der Frauen und der gestiegene Akademikeranteil.

Was sind sachgrundlose Befristungen?

Die sachgrundlosen Befristungen, die Schulz ins Visier nimmt, waren eingeführt worden, um Unternehmen zu ermuntern, auf gut laufende Geschäfte mit Einstellungen zu reagieren. Weber bezweifelt nicht, dass dieses Kalkül in vielen Fällen aufging. Für den Aufschwung am Arbeitsmarkt insgesamt aber haben die Befristungen nur geringe Bedeutung. Weitaus wirkungsvoller war die Reform der Arbeitsvermittlung hin zu einem effektiven Dienstleister für Unternehmen und Arbeitssuchende.

Was brächte es, Agenda 2010 zu überarbeiten?

Wirkungsvolle Maßnahmen gegen sachgrundlose Befristungen sind nach Ansicht des Arbeitsmarktforschers durchaus möglich, wenn auch anders, als von Schulz angekündigt. „Wenn der Staat wirklich etwas tun will, sollte er sich an die eigene Nase fassen: der Öffentliche Dienst weist den höchsten Anteil bei befristeten Neueinstellungen auf“, sagt Weber.

Die von Schulz ins Visier genommenen Agenda-Bestandteile haben wenig zum Aufschwung am Arbeitsmarkt beigetragen. Ihre Beseitigung hätte begrenzte Effekte, Hartz IV bliebe unberührt. Weber: „Wenn man Hartz IV als soziale Bedrohung sieht, dann sollte man über die Anrechnung der Vermögen neu nachdenken, das heißt: Man müsste den Menschen mehr von ihrem Vermögen lassen, wenn sie Hartz IV beziehen.“