Migranten aus Afrika Kanarische Inseln: Flüchtlinge statt Touristen in den Bettenburgen auf Gran Canaria

Madrid - Wenn Achim Kantzenbach aus dem Küchenfenster schaut, sieht er die Migranten. Drüben im Hotel Waikiki stehen sie auf den Balkonen. Mitte November wurden sie vom Hafen Arguineguín hierher nach Playa del Inglés gebracht, gut 1000 junge Männer. Kantzenbach hat deswegen keine Klagen. „Wir haben niemanden beobachtet, der unangenehm auffällt“, sagt er. „Wir kriegen niemanden mit, der hier bettelt oder die Touristen bedrängt. Die warten halt nur darauf, dass eine Entscheidung fällt.“
Eine Entscheidung darüber, wie es weitergehen soll mit ihrem Leben. Das kann sich hinziehen. Tausende Afrikaner sind auf den Kanarischen Inseln derzeit in Wartestellung, die meisten auf Gran Canaria. Wer aber ungeduldig wird, sind die Einheimischen. Jedenfalls einige. Mit den Hotels voller Immigranten setze Gran Canaria gerade „sein Image als Urlauberziel“ aufs Spiel, glaubt Bernardino Ramírez von der Plataforma Técnica de Alquiler Vacacional, die sich um die Verwaltung von Ferienapartments im Süden der Insel kümmert.
Für Santiago Ceballos, den Präsidenten des Debattierclubs Foro Canarias, ist die Hotelunterbringung der Immigranten sogar „meine derzeit größte Sorge“. Wenn auf der Insel mal ein Unglück geschehe und Häuser evakuiert werden müssten, bringe man die Betroffenen in Turnhallen unter. „Die Migranten aber kommen und erhalten bessere Bedingungen als die Einheimischen“, klagt er.
Angst um die eigene Existenz
Im November ist auf den sonnigen Kanaren Hochsaison. Normalerweise. Wegen des Coronavirus ist dieses Jahr alles anders. Die Hotelkette Riu hat auf Gran Canaria dieser Tage nur vier ihrer dortigen acht Hotels geöffnet. Die seien „zu 30, höchstens 40 Prozent“ belegt, erklärt Kanaren-Chef Félix Casado. Statt europäischer Urlaubsflieger landen jetzt die Schlauchboote afrikanischer Flüchtlinge hier. Bis Mitte November kamen in diesem Jahr 16 760 Menschen an – sechsmal mehr als im gesamten Vorjahr. Und ihre Zahl wächst weiter. Die Behörden sind längst überfordert. Im Hafen Arguineguín im Südwesten Gran Canarias haben sich an manchen Tagen mehr als 2000 Ankömmlinge in 14 Zelten gedrängt, die eigentlich für höchstens 500 Menschen gedacht waren.
Die Kanarischen Inseln liegen fernab vom spanischen Festland im Atlantik, vor der nordwestafrikanischen Küste. Seit ein Durchkommen für die Flüchtlingsboote im Mittelmeer wegen der vielen Kontrollen kaum noch möglich ist, weichen immer mehr Afrikaner auf die gefährliche Route über den Atlantik aus. Die Inseln müssen irgendwie damit umgehen.
Im August fiel jemandem ein, dass es Tausende leere Betten gab. Jetzt sind nach Angaben der spanischen Migrationsstaatssekretärin Hana Jalloul 17 kanarische Hotels mit Bootsmigranten belegt. Das ist gut für alle Beteiligten: Die Hotels werden für ihre Dienste vom Staat bezahlt, haben also trotz Corona-Krise ordentliche Einnahmen, zumindest ein Teil des Personals ist weiter beschäftigt, und die Migranten sind würdig untergebracht. „Das sage ich on the superrecord“, sagte Jalloul vergangene Woche bei einem Gespräch mit Auslandskorrespondenten: „Ich bin superhappy, die Hotels geöffnet zu haben!“
So redet die Politikerin. Doch es ist eine Sprache, die auf den Kanaren viele nicht verstehen.
Deutsche auf Gran Canaria haben Angst vor Flüchtlingen
Achim Kantzenbach aus dem mittelfränkischen Neuendettelsau besitzt seit neun Jahren ein Apartment in der Feriensiedlung Playa del Inglés an der Südspitze Gran Canarias. Früher kam der Sonderschullehrer in den Ferien hierher, jetzt ist er pensioniert und kann wie viele deutsche Rentner den ganzen Winter über auf der Insel bleiben. Oder noch länger. Kantzenbach kennt die Welt der Deutschen auf Gran Canaria, und er kennt die Welt der Einheimischen.
„Die Deutschen“, sagt er, „die haben vor allem Angst davor, dass eine Invasion von Flüchtlingen ihre heile Welt beeinträchtigt. Viele haben ja hier Eigentum und befürchten einen Verlust an Lebensqualität oder einen Wertverlust.“ Gerade jetzt, wo man wegen Corona sowieso schon viele Schilder an den Häusern hängen sieht: „Se vende“, „Se alquila“ – „Zu verkaufen“, „Zu vermieten“.
Während die Deutschen um ihren Wohlstand fürchten, fürchten die Kanarier um ihre Existenz. Viele sagen: Bei uns auf der Insel ist doch die Armut sowieso schon so groß! Viele von uns sind arbeitslos! Viele von uns wissen nicht, wie sie ihr Leben finanzieren können!
Unruhe unter Einheimischen nimmt zu
Kantzenbach hat gemeinsam mit seinem kanadischen Mann Vicente lange in Las Palmas bei der Ausgabe von Lebensmitteln an Bedürftige geholfen, „von denen es viele gibt, Einheimische“. Und die schauen jetzt neidisch auf die Migranten. Da sind dann Sätze wie diese zu hören: „Die Flüchtlinge dürfen im Vier-Sterne-Hotel wohnen! Wer kümmert sich eigentlich um die armen Leute hier auf der Insel?“ Am vergangenen Freitag demonstrierten Hunderte, vielleicht mehr als tausend Einheimische gegen die „Luxusunterbringung“ und „für die Rettung des Tourismus“.
Die Unruhe auf der Insel nimmt zu. Kantzenbach neigt zur Gelassenheit: „Ich sage mir: Da wird ja geprüft, ob ein Asylantrag bewilligt werden kann, und wer nur aus wirtschaftlichen Gründen kommt, der wird ja wahrscheinlich wieder zurückgeschickt werden.“
Das aber ist der Kern der Debatte. Was geschieht mit den Ankömmlingen? Bleiben alle auf den Inseln? Für die Migranten gibt es fünf potenzielle Auswege:
Sie werden als schutzbedürftig eingeschätzt und aufs spanische Festland gebracht; wie viele das bisher waren, gibt die Regierung nicht bekannt. Der erfahrene Nordafrikaexperte Ignacio Cembrero beklagt die „Undurchsichtigkeit“ der linken Sánchez-Regierung in Migrationsfragen, die weiter gehe als die der früheren konservativen Regierung. Staatssekretärin Jalloul weiß von bisher 352 Asylbewerbern unter den knapp 17.000 Ankömmlingen auf den Kanaren. Sie kehren freiwillig in ihre Heimat zurück. Jalloul spricht vage von „hohen Zahlen“.
Ein dritter, glücklicher Ausweg ist das Wiedersehen mit früher ausgewanderten Verwandten, die auf die Kanaren kommen, um die neu Angekommenen abzuholen.
Migranten fliegen aufs Festland
Der vierte Ausweg ist – für den, der es sich leisten kann – der Kauf eines Flugtickets aufs Festland. „Das ist ein neues Phänomen“, sagt der Journalist Cembrero. „Wir wissen nicht, wie viele es sind. Aber es sind mehr als zehn oder zwanzig.“ Bei Inlandsflügen wird lediglich die Identität des Passagiers überprüft und nicht seine rechtliche Situation. Alles spricht dafür, dass die Behörden diese Flüge aufs Festland dulden, weil sie Druck von den Inseln nehmen.
Doch eigentlich hat die Regierung für den Großteil der Ankömmlinge nur den fünften Ausweg vorgesehen: Ausweisung und Rückführung in die Heimatländer. Sie fürchtet den „Sogeffekt“, wenn die Migranten erst einmal zu Hause vermelden, dass sie es aufs europäische Festland geschafft haben. Also sollen sie auf den Inseln bis zu ihrer Rückführung warten. Doch mit der hapert es. Am 10. November wurden 22 Menschen nach Mauretanien gebracht. Mehr Ausschiffungen sind nicht bekannt.
Flaute in der Corona-Oase
Vorerst werden die Bootsmigranten also in den Hotels bleiben. Gut 7000 sollen es zurzeit sein. Die Regierung will alle, wie jetzt schon ein paar Hundert, in den kommenden Monaten in Zeltlager auf Militärgelände umsiedeln, später in Hallen. Den meisten Kanariern geht das alles viel zu langsam. „Man hätte schon viel früher aktiv werden müssen“, sagt Santiago Ceballos vom Foro Canarias.
Die Hoteliers treiben währenddessen noch ganz andere Sorgen um. Die Kanarischen Inseln sind eine Corona-Oase. Die 14-Tage-Inzidenz von 77,5 Neuinfizierten auf 100 000 Einwohner wird zurzeit nur von Island unterboten. Trotzdem kommen bloß wenige Touristen. Félix Casado von der Hotelkette Riu macht dafür die Testpflicht verantwortlich. „Die langwierigen PCR-Tests bremsen uns aus“, sagt er. Er hofft, dass bald wieder die billigeren und schnelleren Antigentests als Eintrittskarte für die Kanaren ausreichen. Damit statt voller Migrantenboote wieder volle Touristenflieger auf Gran Canaria landen.
Die gefährlichste Route nach Europa
Der Weg von der westafrikanischen Küste über den Atlantik gilt als gefährlichste Fluchtroute nach Europa. Trotzdem machen sich seit Anfang 2020 Tausende in wenig seetauglichen Booten auf diesen Weg. Etwa 100 Kilometer liegen zwischen der Westküste Marokkos und Mauretaniens und den Kanarischen Inseln. Viele Migranten starten sogar im 1600 Kilometer entfernten Senegal. Die Regierung in Madrid versucht jetzt, Senegal zu stärkeren Kontrollen seiner Küste zu bewegen.
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sprach bei einem Besuch auf den Kanaren von der „tödlichsten Fluchtroute“. Dass sie jetzt so viel benutzt wird, hat auch mit Europas Politik der Sperrung anderer Wege zu tun.
Die bisherigen Routen über die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla sind weitgehend dicht, die kürzere und sicherere Route über die Straße von Gibraltar ist gesperrt. Auch der Weg von Niger und Mali nach Algerien ist praktisch abgeriegelt. (sus)