Interview mit Dresdner Politologen Interview mit Dresdner Politologen: "Wir haben kein Ost-West-Problem"

Dresden - Herr Herrmann, sind die politischen Verhältnisse in Sachsen noch stabil?
Es ist überhaupt nicht erkennbar, wie es weitergehen soll. Der Staat muss nun Handlungsfähigkeit und Stärke zeigen. Es kann nicht sein, dass die Polizei sich in Clausnitz von einem Mob auf der Nase herumtanzen lässt und keine Platzverweise durchsetzt. Ist ja auch nicht das erste Mal in Sachsen.
Warum läuft es schief in Sachsen? Ist der Freistaat schon – wie ein SPD-Bundestagsabgeordneter nach den hässlichen Vorfällen in Clausnitz und Bautzen meinte - ein „failed state“ in Sachsen Rechtsextremismus?
Sachsen hat noch eine Unmenge Hausaufgaben zu machen. Es gibt einen Berg Ursachen dafür, warum es schief läuft. Eine lautet: Rechtsextremismus wurde in den vergangenen Jahrzehnten immerzu verharmlost. Legendär ist der Satz von Kurt Biedenkopf, Sachsen sei immun gegen Rechtsextremismus. Wenn so gedacht wird, bedeutet das zwangsläufig, dass auch nichts getan werden muss.
Ein tiefer liegender Grund ist: Sachsen hat nach der Wende versucht, an alte Traditionen anzuknüpfen, an die Herrlichkeit und den Prunk barocker Herrscher. Sachsen hat sich Glanz aus der Geschichte geliehen und die Regierungspolitik hat es gleichzeitig versäumt, sich darum zu kümmern, was die nun neue Gesellschaft eigentlich im Kern ausmachen soll. Zivilgesellschaftliches Engagement war in der DDR nicht gewollt.
Und „König“ Kurt Biedenkopf kamen die daraus entstandene passive Haltung und diese Staatsfixierung sehr entgegen. Diskurs war im Grunde immer noch unerwünscht. Und das hat sich durchgeschleppt bis heute. Wir haben zu wenig darüber geredet, was unsere Gesellschaft ausmacht, welche Grundrechte für alle zu gelten haben, auch zu wenig darüber, was jenseits des Verfassungskonsenses liegt. Und jetzt haben wir das Geschrei.
Hat Deutschland auch ein Integrationsproblem-Ost? Reden wir über wütende Mitbürger, die 26 Jahre nach dem Mauerfall immer noch nicht in der Bundesrepublik angekommen sind?
Wir haben kein Ost-West-Problem. Es gibt ja auch in Westdeutschland genügend Menschen, die den Schreihälsen, die in Clausnitz den Bus blockierten, zustimmen würden. Und etliche Führungskräfte in Staat und Verwaltung haben, wie der Chemnitzer Polizeipräsident, westdeutschen Hintergrund.
Rote Laterne für Sachsen
Aber Sachsen ist schon anders. Hier geht es eindeutig härter und aggressiver zu.
Einerseits. Andererseits: Was in Sachsen vor allem auffällt, ist die Reaktion auf derartige Vorfälle. Sächsischen Regierungen und auch etlichen Bürgern hat es bis heute an der nötigen Entschlossenheit im Auftreten gefehlt. Es hieß in Sachsen immer, man müsse gegen Extremismus von links und rechts vorgehen. Es wurde alles vermischt, anstatt sich klar gegen rechte Gewalttaten abzugrenzen, die nun einmal deutlich häufiger passieren. Man hat es sich zu leicht gemacht.
Wer in Dresden Pegida-Versammlungen zuhört, muss den Eindruck gewinnen, es gehe nicht um eine andere Politik. Sondern um Umsturz.
Ja, vieles deutet darauf hin. Und „Merkel muss weg“ ist da nur ein Symbol. Es geht längst um mehr, aber es ist schwer zu sagen, was die Demonstranten eigentlich nach dem Umsturz wollen. Das sind Menschen, die sich ja auch am politischen Prozess beteiligen könnten, wenn sie etwas verbessern wollten. Aber das tun sie nicht. Sie stellen sich auf einen Platz, schreien und stellen Forderungen. Sie verstehen Politik wie ein Dienstleistung. Und wenn nicht das gewünschte Produkt geliefert wird, dann kracht es.
Kann man noch mit denen reden, die „Wir sind das Volk“ schreien? Und wenn ja, was?
Gespräch ist die Grundlage der Demokratie. Wenn wir nicht mehr miteinander reden, können wir den Betrieb einstellen. Aber viele haben überhaupt keine Geduld, sehen auch gar nicht mehr, dass man andere Meinungen respektieren sollte. Ehrlich gesagt, sehe ich nicht, wie man schnell ins Gespräch kommen könnte. Ich weiß nicht, wie sich das Defizit zügig beheben ließe.
Mehr politische Bildung? Aufklärung?
Sachsen hat seit langem die Rote Laterne unter den Bundesländern bei der politischen Bildung. Nach der Wende hat man in Sachsen aus Gründen der Sparsamkeit ältere Lehrer für den Unterricht in Gemeinschaftskunde notdürftig umgeschult anstatt jungen engagierten Nachwuchs für die politische Bildung heranzuziehen.
Vorgeblich um der parteipolitischen Indoktrination zu wehren, blieben für lange Zeit die Türen zu Schulen, sogar zu den Hochschulen für aktive Politiker verschlossen. Jeglicher Konflikt, politische Streit sollte von den Menschen ferngehalten werden.
Und die Folge?
Eine verqueres Verständnis. Politik wird von vielen immer noch nicht als etwas verstanden, zu dem man unterschiedliche oder gegensätzliche Positionen vertreten kann. Politik - und auch Medien - sollen die „Wahrheit“ liefern.