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Letzter Auftritt in Berlin Guido Westerwelle: "Ich will nur noch leben"

Von Thomas Kröter 18.03.2016, 15:45
Ex-Außenminister Guido Westerwelle bei seiner Buchvorstellung.
Ex-Außenminister Guido Westerwelle bei seiner Buchvorstellung. REUTERS Lizenz

Schmal ist er geworden. Die Haut seines Gesichts ist eher fahl als blass. Rot geränderte Augen hinter der schwarz gefassten Brille. Die früher so schneidend klare Stimme: leise, fast sanft. Guido Westerwelle packt die Seitenlehnen des Stahlrohrsessels, in dem er die letzte Stunde verbracht hat. Langsam schiebt er sich mit den Armen hoch. Die Beine brauchen Unterstützung beim Aufstehen. Der Beifall im Foyer des Berliner Ensembles ist verklungen. Bei abgeschalteten Kameras bleibt dem 53-Jährigen eine kurze Verschnaufpause vor dem letzten Teil seines Auftritts. Aber selbst die bereitet Mühe. Dann geht’s raus an einen kleinen Tisch zum Signieren.

Einen Text abgerungen

Buchvorstellungen gehören zum gesellschaftlichen Spiel der politisch-publizistischen Klasse in Berlin. Doch diese hier, am Sonntagvormittag in Berlin-Mitte, ist etwas Besonderes. „Zwischen zwei Leben“ heißt der Text, den Westerwelle sich abgerungen hat, gemeinsam mit dem Journalisten Dominik Wichmann. Er berichtet über Guido Westerwelles Krankheit. Leukämie, umgangssprachlich: Blutkrebs. Wer sich auf die 230 Seiten einlässt, wird auch viel über die medizinischen Zusammenhänge erfahren. Beschrieben mit kühler Präzision. Ein bewusster Gegensatz zur aufwühlenden Schilderung eines Schicksals, das man seinem schlimmsten Feind nicht wünschen möchte.

„Wie geht es Ihnen?“ Die Fernsehmoderatorin Dunja Hayali eröffnet die Talkshow der anderen Art durchaus konventionell. Aber Guido Westerwelle bewegt sich in einer Phase seines Lebens, da es mit den Höflichkeitsfloskeln nicht so leicht sein Bewenden hat. „Eigentlich ganz gut“, antwortet er. Aber er kämpfe gerade mit einer „Abstoßungsreaktion“. Der frühere FDP-Vorsitzende hat neues Rückenmark transplantiert bekommen. Damit wird sein Blutkreislauf neu aufgebaut, der von der Krankheit befallen war. Er hat nun die Blutgruppe seines Spenders. Es läuft gut. Eigentlich. Aber es kann eben immer wieder Rückschläge geben. Wie diesen.

In seinen besten Zeiten (heute ist er sich nicht mehr sicher, ob es die besten waren), hat Guido Westerwelle die Republik gespalten. Wenn er heute daran zurückdenke, frage er sich, womit er seine „Zeit verschwendet“ habe. Als lebende Erinnerung an damals sitzt vor ihm in der ersten Reihe Sabine Christiansen. In ihrer Talkshow hat er seine legendäre Schuhsohle hergezeigt, in die eine „18“ gefräst war – jene Prozentzahl, die er bei der Bundestagswahl 2002 hatte erreichen wollen.

Eine Volkspartei neuen Typs hatte er aus der FDP machen wollen. Sein wichtigster Partner: Jürgen Möllemann. Der zeitweilige Bildungs- und Wirtschaftsminister schreckte im Wahlkampf vor einem bösen Spiel mit dem Antisemitismus nicht zurück und verstrickte sich in illegale Finanzierungsmachenschaften, an denen die FDP bis heute krankt. Als Möllemann nicht mehr weiter wusste, nahm er sich das Leben. Westerwelle stürzte damit in die erste politische Krise seines Lebens, die auch eine persönliche war. Er sprach darüber mit Dominik Wichmann.

Die beiden hatten einander 1999 kennengelernt, bei einem Interview für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Wichtiger als der Text war die Illustration. Westerwelle präsentierte sich mit skeptisch-spöttischem Blick im weißen Anzug, auf den kitschigen Kissen einer venezianischen Gondel sitzend. Eine Anspielung auf Luchino Viscontis Film „Tod in Venedig.“ Der Satz „Ich bin schwul“, sei ihm damals noch nicht über die Lippen gekommen, erinnert sich Westerwelle. „Aber jeder, der wollte, konnte die Botschaft aus den Bildern herauslesen.“ Dass Wichmann sich auf den Deal einließ und nicht weiterging, als Westerwelle damals wollte, hat das Vertrauensverhältnis der beiden begründet.

Bis heute siezen sich die Männer. Aber Westerwelle öffnete sich dem Journalisten in einem Maße, wie er es bislang vielleicht nur gegenüber seinem Mann Michael Mronz getan hat, und gegenüber den Ärzten im Kölner Universitätsklinikum. Stunden um Stunden redeten sie im Haus des Paares auf Mallorca. Der Journalist bekam auch das Tagebuch, das der Todkranke zur Selbstvergewisserung begonnen hatte.

Wichmann fragte, hörte, las und schrieb. Wie in einem Rausch, sagt er. Anders hätte er sich dem Mann nicht anverwandeln können, dem er nun seine Stimme gab. Es wurde eine Veränderung daraus – ähnlich dem neuen Blut, das in Westerwelles Adern fließt. Westerwelle bleibt zwar als Autor der Alte, aber er wird auch ein neuer Mensch, weil er sich in einer ganz anderen Weise als bisher auf sich selbst einlässt und damit auch für andere öffnen kann. Der kühl kalkulierende Polemiker mutiert zu einem Menschen, der mit seinem Schicksal andere zu rühren vermag.

Es war das rechte Knie, das Guido Westerwelle das Leben gerettet hat. Am Neujahrstag 2014 joggte er auf Mallorca, wie so viele Male zuvor. Diesmal ließ ihn ein stechender Schmerz nicht weitermachen, obwohl er versuchte, ihn niederzukämpfen. Er machte Pause mit dem Laufen. Ein paar Monate später, froh, New York ohne die Bürde des Außenministeramtes genießen zu können, versuchte er es wieder. Es ging nicht. Zurück in Deutschland, absolvierte er den lange aufgeschobenen Arztbesuch. Der Meniskus war hin. Nicht dramatisch. Eine minimalinvasive Operation. Doch mit der vorausgehenden Blutuntersuchung ging das erste Leben des Guido Westerwelle zu Ende. „Leider müssen wir Ihnen noch mal Blut abnehmen“, sagte der behandelnde Arzt. „In dem Blutbild scheint ein Messfehler zu sein.“ Es war keiner. Wenig später wurde der Verdacht zur Gewissheit: Leukämie.
Guido Westerwelles neues Leben begann. Ein Leben mit der Aussicht des Todes. Warten, Bangen. Immer wieder und trotz allem: Hoffnung.

In der Nacht der Wahlniederlage 2013 war er irgendwann in Tränen ausgebrochen. Er hatte viel getrunken. Die Enttäuschung war groß. Mit den Tränen fiel eine Last. Eine Ausnahmeemotion nach einem Ausnahmeereignis.
Auch in der Zeit nach der Diagnose wird der einst so starke, kühle Mann immer wieder heulen. Er wird lernen, die Tränen zuzulassen. Trotzdem stark zu sein in seiner Schwäche. Loslassen, sagen ihm jene Ärzte, die Guido Westerwelle in sein neues Leben begleiten, an der Spitze der Kölner Onkologe Michael Hallek. Der Kontrollfreak, der einst nichts in seiner Partei dem Zufall überlassen mochte, musste lernen, anderen zu vertrauen, bedingungslos. Er war in jeder Hinsicht wehrlos, angeschlossen an das Schlauchsystem der Intensivstation.

Doch irgendwann war klar, dass die ganze Plackerei mit der Chemotherapie sein Leben nicht würde retten können. Westerwelles Blut war irreparabel von der Krankheit befallen. Er brauchte neues. Nicht mal eben so per Transfusion. Er musste es selbst produzieren. Er brauchte eine Knochenmarktransfusion – eine der kompliziertesten Operationen der modernen Medizin. Die Einzelheiten sind in seinem Buch nachzulesen.

Der Phase der Verzweiflung folgte schnell die der Hoffnung: Drei potenzielle Spender waren gefunden. Einer davon passte besonders gut. Der Patient schickte sich an, das Vorzimmer zu seinem neuen Leben zu betreten und musste auf der Schwelle hören: „Er hat es sich anders überlegt.“ – „Wie bitte?“ – „Der Spender ist abgesprungen.“ Und nun? Wieder warten. Raus aus dem Krankenhaus. Kraft tanken, Normalität spielen. Wieder machte sich bezahlt, dass Westerwelle aller äußeren Kühle zum Trotz über ein funktionierendes Netzwerk verfügt. Privat. Aber auch in der Politik.

Zu den treuesten Freunden zählt Angela Merkel. Sie meldet sich in der schwierigen Zeit immer wieder, per SMS mit dem Kürzel „AM“, telefonisch oder auch persönlich. Der nächste Stimmungsaufschwung beginnt für Westerwelle bei seinem Kölner Stamm-Italiener Claudio. Mitten im Essen mit der Kanzlerin rührt sich das lautlos gestellte Handy. Einer der wenigen Menschen, erläutert er seinem Gast, die „ein Mittagessen mit dir stören dürfen: Michael Hallek, mein Arzt“.

Hand aufs Herz

So wird Merkel Zeugin der Mitteilung, dass ein neuer Spender für Guido Westerwelle gefunden ist. Dieser springt nicht ab. Aber als das neue Blut in den Adern der Patienten fließt, erlebt er die nächste, die wohl schlimmste Krise. „So muss es sich anfühlen“, sagt er heute, „das Sterben.“ Jedenfalls dachte er das in seinem Fieberwahn. Es war nicht das Sterben, sondern nun wirklich der Beginn des neuen Lebens. Eines Lebens, das immer noch gefährdet ist.

Leukämiekranke sind nie auf der sicheren Seite, auch wenn neues Blut in ihren Adern fließt. Westerwelle muss aufpassen, vorsichtiger sein als die anderen. Das beginnt bei der Begrüßung. In seinem alten Leben war er ein großer Hände-Schüttler. Er beherrschte diese Geste als Zeichen auch der Machtausübung wie kaum ein Zweiter. „80 Prozent aller Keime werden durch Händedruck weitergegeben“, weiß er nun.

Guido Westerwelle erweist seine Höflichkeit heute, indem er die rechte Hand kurz aufs Herz legt. Machtdemonstrationen braucht er nicht mehr. „Ich will nur noch leben“, sagt er. Und wenn er am Abend dieses Sonntags noch zu Christiansens Nachnachfolger Günther Jauch in die Talkshow geht, dann nicht, um die politischen Gegner niederzumachen. Sondern um andere zu ermutigen, die nicht so bekannt sind wie er.

Guido Westerwelle bei seiner Ankunft im Berliner Ensemble Theater.
Guido Westerwelle bei seiner Ankunft im Berliner Ensemble Theater.
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Ex-Außenminister Guido Westerwelle (M, FDP) kommt mit Ehemann Michael Mronz (l) und dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner zur Vorstellung seines Buches "Zwischen zwei Leben.
Ex-Außenminister Guido Westerwelle (M, FDP) kommt mit Ehemann Michael Mronz (l) und dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner zur Vorstellung seines Buches "Zwischen zwei Leben.
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Guido Westerwelle
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