Globalisierung und ihre Folgen Globalisierung und ihre Folgen: «Zweite Ausbeutungsoffensive»
Halle/MZ. - Frage: Herr Geißler, der Internationale Währungsfonds hat Alarm geschlagen wegen des Hungers in der Dritten Welt. Wieso ist der Westen so überrascht von der Situation?
Geißler: Diese Aufregung ist vielleicht nicht die pure Heuchelei, trägt aber starke Züge von Scheinheiligkeit - sowohl bei den Verantwortlichen für die wirtschaftliche Entwicklung als auch in der Politik. Die Armut ist doch die Folge einer ungerechten - ja, man muss sagen: eines unsittlichen Wirtschaftssystems, in dem die Interessen der Menschen fast vollständig denen des Kapitals untergeordnet werden.
Um nur einen Punkt zu nennen: Die europäischen und US-amerikanischen Agrarsubventionen haben die Nahrungsmittelproduktion zum Beispiel in Afrika in erheblichem Maße beeinträchtigt. Bis vor kurzem wurde jede europäische Kuh mit bis zu 1000 Euro subventioniert. Die daraus resultierende Menge an Milch konnte niemand trinken. Also wurde Milchpulver daraus gemacht, das noch einmal subventioniert worden ist - mit 550 Euro pro Tonne. So konnte es exportiert werden - die Milchbauern in Jamaika oder anderen Entwicklungsländern hatten aber keine Chance mehr…
Frage: …weil sie selbst zu diesen Preisen nicht produzieren können.
Geißler: Ihre Erzeugnisse waren teurer als die aus Europa. So werden auch auf den Gemüsemärkten im Senegal tonnenweise holländische Tomaten und belgische Gurken angeboten, weshalb die einheimischen Bauern keine gute Chance haben. Die landen dann als Bootsflüchtlinge in Italien oder Spanien, worüber sich die Europäer aufregen.
Die Armut in den Entwicklungsländern ist zu einem großen Teil dadurch entstanden, dass die westlichen Demokratien deren Ernährungspotentiale durch einen unfairen Wettbewerb kaputt gemacht haben.
Frage: Die Globalisierung ist eine Art Fortsetzung der Kolonialisierung?
Geißler: Das kann man so sagen. Zu Kolonialzeiten wurden vor allem die Länder Afrikas durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, aber auch der Rohstoffe benutzt. Das ist heute immer noch der Fall, nun kommt eine zweite Ausbeutungsoffensive hinzu: Die Grundlage für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern wird durch den Westen zerstört.
Frage: Welchen Wert haben vor diesem Hintergrund eigentlich noch die die ethischen Grundüberzeugungen des christlichen Abendlandes?
Geißler: Den Begriff „christliches Abendland“ sollte man nicht in den Mund nehmen, Europa kann man so nicht bezeichnen. Die europäischen Länder sind vielmehr Hauptakteure, zum Teil natürlich auch Leidtragende eines brutalen Raubtierkapitalismus. Sie müssen die ethischen Grundlagen wiederentdecken, wie sie etwa der sozialen Marktwirtschaft zugrunde lagen, die vor 60 Jahren erfolgreich in Gang gesetzt worden ist. Diesen ethischen Grundlagen muss wieder Geltung verschafft werden. Das heißt nicht, dass wir den Markt abschaffen müssen. Aber wir brauchen einen geordneten Markt und einen geordneten Wettbewerb - nicht Catch-as-catch-can, wo der Stärkere den Schwachen kaputt macht.
Hier muss man im Übrigen auch die Chinesen einbeziehen. Sie sichern sich ihre Anteile am Weltmarkt nicht durch fairen Wettbewerb, sondern durch gnadenlose Ausbeutung der Menschen, die zu 90 Prozent für einen Monatslohn von 25 Euro arbeiten müssen, durch ebenso gnadenlose Ausbeutung der Natur und durch skandalöse Produktpiraterie - einen vom chinesischen Staat gebilligten geistigen Diebstahl. Die Chinesen selber treiben die Preise in die Höhe, indem sie die Nachfrage nach Lebensmitteln ins Uferlose steigen lassen anstatt durch vernünftige Agrarpolitik für die Ernährung der eigenen Bevölkerung zu sorgen.
Frage: Und wie soll es nach Ihrer Meinung weitergehen?
Geißler: Die Hilfe, die in Afrika, Südamerika und Südostasien zu leisten wäre, müsste ja Hilfe zur Selbsthilfe sein. Die USA und Europa können sich dabei an den Zielen der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2012 orientieren: Halbierung der Armut und Verdopplung der Zahl von Kindern, die eine Schule besuchen. Dafür braucht man freilich Geld. Es müsste ein Global Marshall-Plan für die Dritte Welt entwickelt werden – so, wie die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg Europa mit dem Marshall-Plan wieder auf die Beine geholfen haben.
Frage: Aber der Gestaltungsraum der Politik wird doch immer geringer?
Geißler: Er stagniert auf jeden Fall. Aber das darf einen ja nicht entmutigen. Die westlichen Demokratien müssen für die notwendigen Geldmittel sorgen. Das ist auch ohne weiteres möglich. Bei einem täglichen Börsenumsatz von weltweit zwei Billionen Dollar könnten durch die Einführung einer Börsenumsatzsteuer um 0,02 Prozent in den Industriestaaten ungefähr 500 Milliarden Dollar pro Jahr erwirtschaftet werden. Das würde fast alle Infrastrukturprobleme in Afrika lösen: vom Brunnenbohren bis zur Aidsbekämpfung. Und wir könnten weite Teile der Entwicklungshilfe im nationalen Bereich, zum Beispiel für die Bildung einsetzen.
Außerdem wären die Einführung einer Terra-Abgabe auf den Welthandel und Sonderziehungsrechte der Entwicklungsländer gegenüber dem Internationalen Währungsfonds vorstellbar. Man muss diese Forderungen erheben, man braucht ein Konzept, um Mehrheiten zu gewinnen. Dabei geht es nicht um eine Neuauflage des Sozialismus. Der hat genauso versagt, wie es der Kapitalismus heute tut. Was wir brauchen, ist eine internationale sozial-ökologische Marktwirtschaft.
Frage: Tatsächlich herrscht aber oft Mutlosigkeit, die Erregungskurve flacht eher ab, zumal die Krise ja auch bei den Schwächeren und sogar beim Mittelstand im reichen Westen angekommen ist.
Geißler: Richtig ist aber auch, dass Wirtschaft und Politik verstanden haben: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ja vor einem Jahr zum G8-Gipfel in Heiligendamm zwei wichtige Punkte auf die Tagesordnung gebracht. Mit einem ist sie zwar vorerst gescheitert: Die Kontrolle der internationalen Finanzmärkte, was dringend notwendig ist. Aber sie hat durchgesetzt, dass für Afrika eine Hilfe von 60 Milliarden Dollar bereitgestellt wird. Wobei jetzt natürlich darauf zu achten ist, dass das Zugesagte nicht wieder von der Entwicklungshilfe abgezogen wird. Hier muss man auch dem Finanzminister Peer Steinbrück auf die Finger sehen.
Frage: Sie werben selbst seit langem für ein Umdenken des Westens und sind auch Mitglied bei Attac. Wie kommt das bei Ihren Parteifreunden in der CDU an?
Geißler: Bei den intelligenten und aufmerksamen Mitgliedern meiner Partei wird das sehr positiv bewertet. Aber es gibt überall auch dümmere und uneinsichtige Zeitgenossen. Die brauchen noch eine gewisse Zeit um zu verstehen, dass der Fortschritt nicht von den politischen Parteien allein erbracht werden kann. Diese sind zwar unverzichtbar, aber es geht nicht ohne sogenannte Nichtregierungsorganisationen wie Attac, Amnesty International und Greenpeace - aber auch die christlichen Kirchen. Diejenigen, die die Probleme vor Ort genau kennen, sind es, von denen die Konzepte kommen.
Frage: Wieviel Zeit dürfen wir uns denn noch nehmen?
Geißler: Realistisch wäre das Ziel, das sich die Vereinten Nationen selber gesetzt haben, um den Entwicklungsländern zu helfen: Also innerhalb der nächsten vier Jahre, spätestens aber bis 2015.
Frage: Das halten Sie für umsetzbar?
Geißler: Aber natürlich. Wenn ich 1988 in Halle gesagt hätte, dass Polen, Ungarn und Tschechien zehn Jahre später zur Nato gehören würden, wäre ich vermutlich in Bautzen gelandet. Hätte ich das Gleiche in Stuttgart gesagt, in der Irrenanstalt. Aber es ist Realität geworden. Und die Zeit hat damals wie heute gedrängt. Wenn man hingegen nichts tut, verkehrt sich der Trend ins Gegenteil.